Atmosphäre. Was macht die Eigenart der 130 heute noch existierenden Wiener Traditionscafés aus?
DIE WELT BIS GESTERN
VON GÜNTHER HALLER
Über das neu erschienene Buch
„Café de Vienne.
Eine Wunderkammer des Geistes“
Gregor Auenhammer (Text)
Robert W. Sackl-Kahr Sagostin (Fotografie)
Warum geht man in Wien ins Kaffeehaus? Gemeint ist: in eines der altehrwürdigen Cafés, um deren Existenz man sich bekanntlich Sorgen machen muss? Weil man nicht anders kann, so Thomas Bernhard: „Da ich an der Kaffeehausaufsuchkrankheit leide, bin ich gezwungen, immer wieder in
ein Literatenkaffeehaus hineinzugehen, auch wenn sich alles in mir dagegen wehrt.“
Doch was sucht der Besucher, die Besucherin hier? Keine der unzähligen Anekdoten, die wir über das Wiener Kaffeehausleben der Vergangenheit im Kopf haben, geht ein auf die Qualität des Produkts, das hier serviert wurde. Man nahm es offenbar in Kauf, hie und da ein schlechtes Gesöff, ein „Gschloda“, serviert zu bekommen. Es ist die Atmosphäre des Raums, die den Geschmack des Getränks schlägt. Wobei immer schon galt: Das Ambiente konnte durchaus aus leicht verschlissenen Sitzecken und Wänden, die laut nach einem neuen Anstrich riefen, bestehen. Heimito von Doderer, ein Stammgast des legendären Café Hawelka, sagte einmal, das Lokal sei deswegen unsterblich, „weil Herr Hawelka nicht renoviert“.
Somit bleibt immer noch die Frage offen,was der Besucher, nein, nicht der Besucher: der „Bewohner“ (Alfred Polgar), hier suchte. Die Gesellschaft anderer? Das können wir von einem stadtbekannten Grantler wie Thomas Bernhard nicht annehmen. Er zog sich im Café Bräunerhof in seine Fensternische zurück und man konnte nichts ausnehmen von ihm als zwei Hände, die eine großformatige Zeitung
hielten. Auch Doderer meinte: „In Wien geht man ins Café, um sich zurückzuziehen, und jeder setzt sich, inselbildend, soweit wie möglich von jedem anderen.“ Allein sein, aber in Gesellschaft, das war das Ziel.
Rot-weiß-rote Identitäten
Wien verkauft sich gern als die Wiege der abendländischen Kaffeehauskultur und als Gralshüter dieser wohldosierten Halböffentlichkeit mit Marmortischen, Thonetstühlen, Logenplätzen an hohen Fenstern und einer Innenausstattung, die an die goldene Ringstraßenära erinnert. Doch es geht schon lang nicht mehr um eine lokale Besonderheit, auch wenn es angeblich ein wesentlicher Bestandteil der austriakisch-kakanischen Identität ist. Der Journalist und Autor Gregor Auenhammer beschreibt in seinem neuen Buch „Café de Vienne“, wie sich die Wiener Kaffeehauskultur wie ein Spinnennetz über die Metropolen der Welt verbreitet hat. Seine Tour d’Horizon führt von Wien nach Triest, Rom und Paris, von Marrakesch bis Buenos Aires, und er erinnert daran, dass die erste Ausschank von Kaffee in Europa in England stattfand, in einem Pub in Liverpool. Weil man diesem Gewerbe keine große Zukunft voraussagte, wurde es nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Das war wohl ein Fehler. Vor allem hinterfragt das Buch rot-weiß-rote Traditionen und Identitäten. Ohne Einflüsse wäre nämlich die Wiener Kaffeehauskultur undenkbar. „Das klassische Wiener Kaffeehaus lebt von der französischen Patisserie, der böhmischen Küche, der italienischen Lebensart.“ Der Cappuccino entstand angeblich, als in Norditalien stationierte österreichische Soldaten der Habsburger-Monarchie ihren gewohnten Kapuziner, eine Wiener Kaffeespezialität, verlangten.
Gregor Auenhammers Annäherung an das Thema ist eigenwillig und subjektiv. Wie in seinen kenntnisreichen Büchern über die Flüsse, die Brunnen und die Fassaden Wiens assoziiert er in wilder sprachlicher Tour de Force drauflos, schlägt gedankliche Kapriolen,
„Worte jonglierend und zu Kaskaden schlichtend“, nennt er das selbst. Offensichtlich sieht er sich als Autor in der Tradition des klassischen Wiener Zeitungsfeuilletons,das einst hundert Jahre lang florierte und 1938 ausgelöscht wurde. Man sollte daher nicht wie der Rezensent den Fehler machen, das Buch von vorn bis hinten zu lesen und sich über das Fehlen von Chronologie und stringenter Themenführung sowie unerklärliche Auslassungen zu wundern.
Warum wird das Café Landtmann nur in einem Nebensatz erwähnt und das Prückel nur en passant? Touristisch stark besuchte Cafés werden bei Auenhammer mit Verachtung bestraft. Mein Tipp daher: Man sollte die sprunghafte Methode des Autors auch als Leser übernehmen, interessant klingende Fundstellen, von denen es genug gibt, aufsuchen und wie ein Stadtflaneur die Orte in dem Buch besuchen, in denen die Welt der seltsamen Geschichten und Legenden rund um den Kaffee ausgebreitet werden.