Venezianische Mysterien. Intime Bälle, geheimnisumrankt, fast konspirativ. Verschwiegenheit über ausschweifende Festlichkeiten im Palazzo Balbi-Valier. Unterdrücktes Prinzessinnenlachen aus dem Dickicht eleganter, mit dunkelrotem Brokat bespannter Fauteuils. Ausschließlich Kerzenlicht erhellt den Ballsaal, diskret und voller Elegance. Interieur, Roben und Uniformen beschränken sich auf eine noble Palette von gedämpften Grau-, gedeckten Ocker- und satten Rottönen. In beinahe erblindete Spiegel werfen vergoldete Masken Lichtblitze, Sternschnuppen, die an den trüben, verglasten Wänden wie Leuchtfeuer aufblitzen. Ein intimes und der Öffentlichkeit versperrtes Paradies, das ich Zigarre rauchend, mit dem Blick des gelangweilten Voyeurs, erkunde. Vor der Fensterfront, die den Blick auf den Canalezzo freigibt, beginnt das Barockorchester zu spielen. Eine der Vivaldi-Triosonaten da camera für zwei Violinen und Basso continuo.
Am Buffet werden Schalen mit Polentapralinés gereicht, auf denen kunstvolle Türmchen aus gedrehten Kalbsleberstreifen arrangiert wurden. Mit Zwiebeln, Olivenöl, Weißwein und Salbei zubereitet – die klassische Art der heimischen Delikatesse fegato alla veneziana. Dazu gekühlter Venissa Bianco von der Isola di Mazzorbo. Zum Champagner danach Mandorlini, Panna Cotta auf Erdbeercarpaccio, Sfogliatelle und Amarettini, drapiert auf Ziertellern aus historischem Muranoglas.
Das mitternächtliche Gedränge auf der Tanzfläche ist beängstigend. Die Leiber der rotierenden Gäste werden aneinandergepresst, verknoten sich zu einem wogenden, ekstatischen Knäuel. Ein olfaktorisches Gesamtkunstwerk, in seiner Sinnlichkeit nicht zu übertreffen: die Vermählung von Zigarrendunst, der Duft von Ambra, Orangenblüte und exotischen Parfums, Schweißgeruch, den Ballkleidern erhitzter Tänzerinnen anhaftend, sowie ausgeatmeter süßlicher Rauch ägyptischer Zigaretten.
Weit nach Mitternacht. Nächtliche Schritte, begleitet von rhythmischem Schellenklang auf der Holzbrücke, die den Hof des Palazzo mit der vis-à-vis gelegenen Fondamenta verbindet. Vielleicht venezianische Schnallenschuhe, die dieses Klingen und Stampfen verursachen? Ist es der 1355 enthauptete Doge Marino Falier, noch immer auf der Suche nach seinem Kopf? Nächtens, vor dem Dogenpalast, tönt stets das Echo seines leisen Wimmerns. Wer sind die eleganten Herren in Uniform, die gerade am Buffet plaudern? Welcher Familie entstammt die junge Dame im schwarz-goldenen Ballkleid, deren Hals ein samtenes Kropfband ziert? Eine florale Brosche aus Diamanten und Perlen hält es zusammen. Ist es die berühmte Sopranistin und Schauspielerin Lina Cavalieri, die demnächst an der Metropolitan Opera in New York City auftreten wird? War Antonio Vivaldi der Gründer des ersten Frauenorchesters, als Musiklehrer im Ospedale della Pietà, dem Waisenhaus für junge Mädchen? Haben im 16. Jahrhundert wirklich 11.000 Kurtisanen auf der Insel residiert? War es Henry James, der, auf die unüberschaubare Menge von Werken der bildenden Kunst und Literatur anspielend, über Venedig schrieb: „Keine andere Stadt auf der Welt kann man so leicht besichtigen, ohne sie je aufsuchen zu müssen“? In der Ca’ Dario wurde Filippo Giordano delle Lanze, Graf von Turin, Kunst- und Antiquitätenexperte, tot aufgefunden. Ermordete ihn sein Liebhaber, der kroatische Seemann?
Mysteriöse Geschichten und Mirakel, die mir in dieser Ballnacht durch den Kopf gehen. Fragen über Fragen. Wie dachte Conte Alvise Tron so herrlich zeitabgewandt im Werk des Berliner Literaturwissenschaftlers und Kunsthistorikers Nicolas Remin, Gondeln aus Glas:
Tron seufzte und lehnte sich wieder in die Polster zurück.
Er schloss die Augen.
Noch ein, zwei Jahrtausende,
und diese Stadt würde keine Geheimnisse mehr für ihn bergen.