06. Nov 2020

Viaggio invernale

Su Gerhard Roth, acqua alta e la legge fisica dell’entropia
Über Gerhard Roth, acqua alta und das physikalische Gesetz der Entropie
About Gerhard Roth, acqua alta and the physical law of entropy
Acqua Alta – Calle Lunga Santa Maria Formosa, 100×100, 2020. La Libreria Acqua Alta si trova in un angolo particolare di Venezia, distante dai flussi turistici più ossessivi, ma allo stesso tempo vicino ad una delle più belle chiesa di Venezia, la Chiesa di Santa Maria Formosa. Foto: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin

Die Nächte der kalten Jahreszeit, beherrscht vom scharfen Atem der graugrün-gläsernen Rii durchwache ich gerne, in dem ich auf der Giudecca am Tresen einer Bar vor frühmorgendlicher Sperrstunde, alkoholisch gewärmt, wiederholt Werke des in Graz 1942 geborenen Schriftstellers Gerhard Roth lese, die in Venedig spielen.

Wunderbar skizziert der Autor in seinem Roman Die Irrfahrt des Michael Aldrian die winterliche Lagunenstadt. Der Protagonist Aldrian, Maestro suggeritore an der Wiener Staatsoper und Freizeitzauberkünstler, überquert gerade die Rialtobrücke, um den Weg entlang der Arkadenbögen des Fischmarktes zum Haus seines Bruders einzuschlagen. Gerhard Roth beschreibt an dieser Stelle die Wetterkapriolen der vom Hochwasser heimgesuchten Stadt: Die Flocken fielen schräg vom Himmel, der milchig und grau war. Später notiert er: Die Fernsehantennen wackelten und nickten leicht im Wind, wie Pflanzen aus Draht. Oder auch: Zwei Kirchtürme … waren … wegen des niedrigen, grauen Himmels nur schattenhaft zu erkennen. Also sei dieser Roman schon allein wegen der Beschreibung winterlicher Kulissen den leidenschaftlichen Flaneuren, die sich gerne in den kalten Schluchten Venedigs bewegen, innig ans Herz gelegt – sozusagen frostig anempfohlen.

Piazza San Marco a gennaio, 1930s. Foto: autore sconosciuto, Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste. Riproduzione: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.

Der Romanheld Roths, der seine Tätigkeit als Souffleur in der Wiener Staatsoper nach einem Ohrinfarkt beenden muß, beschließt einen ungewöhnlichen, sehr individuellen Reiseführer über die Lagunenstadt zu verfassen. Er besucht deshalb San Servolo, von Einheimischen als Insel der Wahnsinnigen bezeichnet, durchwandert den verschneiten Park sowie die Gebäude der ehemaligen Psychiatrie. Seit 1725 wurden hier geistig Kranke untergebracht, zunächst ausschließlich Patienten aus wohlhabenden Familien, die es sich leisten konnten, für Kost und Logis aufzukommen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ein Irrenhaus für Männer und Frauen eingerichtet – heute das Museo del Manicomio beherbergend. Es ist nunmehr auch Sitz des Istituto per le Ricerche e gli Studi sull´Emarginazione Sociale e Culturale, das durch eine Stiftung des Europarates um das Europäische Zentrum Venedig für die Berufe in der Denkmalpflege (Centro Europeo di Venezia per i Mestieri della Conservazione del Patrimonio Architettonico) 1977 erweitert wurde. Mit seinem Freund und Kollegen Lorenzo Verra, tätig als Maestro suggeritore im Teatro La Fenice bespricht sich der Protagonist des Romans im Maurischen Zimmer des Caffè Florian bei Pfefferminztee und Keksen. Durch einen Aufseher des Museo Fortuny hat er Gelegenheit, die oberen Etagen des Palazzo Pesaro degli Orfei zu erkunden, das verschlossene Atelier des Universalkünstlers Mariano Fortuny y Madrazo, Magazine und Bibliotheken, gefüllt mit Gemälden, afrikanischen Büsten, Totenmasken, Wildtierskeletten, alten Atlanten und historischen Fotoalben. Nicht zuletzt erforscht Michael Aldrian den Palazzo Ducale, ergeht sich in der Schönheit von Stuckaturen und Deckenfresken, philosophiert über Terrazzo-Fußböden, die das Licht spiegeln, erinnert sich an Zeugnisse, die von Gefangenen im Keller und in den Bleikammern erhalten sind sowie an die Flucht Casanovas über die Palastdächer. Im Laufe des Romans wird er auch vom Direktor der Biblioteca Marciana, Dr. Marino Zorzi, empfangen, mit dem er die unzählbar vielen Räume seines Gebäudes durchschreitet, … sie überquerten Brücken voller Bücher, die durch Räume voller Bücher in die nächsten Räume voller Bücher führten.

Immagini da sinistra a destra: Gerhard Roth, Winterreise, Fischer Verlag, Prima Edizione, 1978. Giulio Obici, VENEZIA fino a quando? Marsilio Editori, Padova 1967 – Prima Edizione, Febbraio 1967. Prefazione di Teresa Foscari Foscolo. Nota storica di Cesare De Michelis. Gerhard Roth, Die Irrfahrt des Michael Aldrian, Fischer Verlag, Prima Edizione, 2017. All reproductions, objects and photography: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin, Collezione Robert W. Sackl-Kahr Sagostin. (Gerhard Roth (Graz, 24 giugno 1942) è uno scrittore austriaco. Dopo aver studiato medicina, ha lavorato per oltre dieci anni in campo informatico. Esponente di spicco del Gruppo di Graz, ha iniziato a scrivere nei primi anni ’70 ed è maggiormente noto per L’autobiografia di Albert Einstein (Die Autobiographie des Albert Einstein, 1972) e per il ciclo di 7 romanzi Landläufiger Tod. Il suo stile è careatterizzato, in ossequio alla sua formazione scientifica, dal pronunciato realismo e da un tono scientifico e quasi clinico nel descrivere eventi e stati d’animo dei protagonisti delle sue opere.

An diesem Werk begeistert mich besonders die Beschreibung der winterlichen Exkursionen des Protagonisten. Die Handlung tritt mir in den Hintergrund. Über Verlauf und Abfolge will ich daher nur so viel verraten: Eingebettet ins Ambiente des Karnevals und dem Unbill des Winterwetters wird Michael Aldrian, der mit Beatrice, einer Journalistin und Vertrauten seines in der Lagunenstadt lebenden Bruders und dessen Frau – beide sind auf rätselhafte Weise verschwunden – eine Liaison beginnt, immer tiefer in geheimnisvolle, kriminelle Machenschaften verwickelt. Der plötzlichen physischen Überforderungen und den intellektuellen Strapazen dieser Verbrechensgeschichte, wie sie der Autor selbst tituliert, ausgeliefert, versinkt Aldrian in albtraumhaften Zuständen. Seine plötzliche Empfindungslosigkeit, Passivität und sein anmaßendes Verhalten münden abrupt in Ausbrüchen von Gereiztheit und Raserei. Zuschauer- und Täterschaft der Hauptperson werden in diesem Werk von Gerhard Roth eins, ein Amalgam aus Irrsinn, venezianischen Märchengeschichten und literarischer Räuberpistole – der Legende nach lügen Venezianer ja auch famos, ausufernd und versuchen sich in ihren Geschichten stets zu übertreffen.

Klammert man die Kriminalgeschichte aus, ist der Roman selbst jener unkonventionelle Reiseführer, den die Hauptperson Michael Aldrian im Sog der Ereignisse niemals fähig sein wird, zu schreiben. Und dieser endet wie in Roths frühem, vor fast 40 Jahren erschienenen, größtenteils auch in Venedig spielenden Werk Winterreise mit einem sprichwörtlichen Abflug ins Ungewisse. Die letzten Sätze in Die Irrfahrt des Michael Aldrian (2017 erschienen) lauten: „Irgendwann“, sagte Beatrice zu ihm, als sie im Flugzeug Platz genommen hatten, „werden wir zur Ruhe kommen. Und dann“, sie machte eine kurze Pause, „erzählst Du mir, wie es wirklich war.“ Der Roman Winterreise, erschienen 1978, in dem der Autor schildert, wie ein Lehrer am Silvestertag seinen Beruf aufgibt, um mit seiner Freundin eine Reise durchs winterliche Italien zu begehen, schließt folgend: Als es hell wurde, fuhr Nagl nach Mestre. Er konnte den Engel am Himmel nicht mehr sehen. Von Mestre nahm er einen Bus zum Flughafen Marco Polo und löste ein Ticket nach Fairbanks, Alaska.


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