08. Jun 2020

Meine vermutlich erste Erinnerung an die Photographie

Ein sehr entfernter, gedämpfter und beruhigender Lichteinfall durch das Glasdach des Ateliers meiner Großmutter in Triest, wahrgenommen im Kinderwagen. Sie benutzte gern das Tageslicht und formte es mit einem System aus über- und nebeneinander verschiebbaren Leinenvorhängen.

Also ein klassisches Fotoatelier der alten Zeit, dessen Oberlicht vermutlich meine ersten Wahrnehmungen und die daraus folgenden Tagträume bestimmte. Zu diesem Diarium des Erinnerns gesellten sich Geräusche aus ihrem Fotolabor sowie das Pfeifen der Bialettimaschine – einer alten Moka Express -, stets gefolgt vom sich sich ausbreitenden Duft frischen Kaffees.

Später, in meiner Volksschulzeit, durfte ich in Großmutters geheimem Reich, meinem Kindheitsparadies, uneingeschränkt schalten und walten. Da gab es Magazine mit ausran

gierten, teilweise reparaturbedürftigen Atelierkameras samt hölzernen Rollstativen des Urgroßvaters aus Berlin. Er wanderte wegen der klimatischen Bedingungen Ende des 18. Jahrhunderts nach Triest aus und brachte viele Geräte mit, die meine Großmutter teilweise in den 1960er-Jahren noch benutzte. In ihrer Sammlung befanden sich Objektivstandarten, Objektive, Negativkassetten, ausrangierte Balgen und wunderbar gestaltete Sperrholzschachteln, in denen zur Jahrhundertwende Albuminpapier verschickt wurde. Alles spannender und großartiger Ersatz für Spielzeug, das mich wenig interessierte: langweilige Eisenbahnmodelle, Spielautos, Legobaukästen und nutzloses Holzspielzeug. Außerdem entdeckte ich die schönsten Theaterrequisiten. Unzählige eingerollte, schon teilweise von Motten angeknabberte Landschaftshintergründe, grisaillebemalte Textilstoffe, auf denen feudale Interieurs oder arkadische Landschaften abgebildet waren, um den im Atelier gefertigten Portraits im Hintergrund eine Andeutung von Exklusivität, herrschaftlicher Privatheit oder entspannter Atmosphäre zu verschaffen.

Abb.: Aus meiner Kinderspielzeugsammlung: Trockenplattenboxen von Gevaert, Erneman, Au Bon Marché (Aristide Boucicauts hauseigene Pariser Marke), Isopan-Rollfilmdosen und Filterboxen. Abb. in der Mitte: Großmutters Fiat Musone 1100 vor der alten Wohnung, Piazza Sant’Antonio Nuovo, Trieste 1951. Abb.: © Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste/Robert W. Sackl-Kahr Sagostin..

Meine Großmutter erklärte mir früh die Grundlagen der Photographie. Gemeinsam experimentierten wir mit Kollodiumplatten, einer Technik der Frühzeit. Zur Herstellung von Nassplatten benutze ich viel später, Anfang der 80er-Jahre, gerne schon verwendete Gläser, die ich partiell abgeschabt, mit Lösungen von Kollodiumwolle, Iod- und Bromsalzen in Ethanol und Äther übergoss, um sie nach Trocknung und einer Behandlung mit Silbernitrat neuerlich zu verwenden.

Dieser Rausch aus Kreativität und nicht enden wollendem Einfallsreichtum, den meine Großmutter nicht nur in der Photographie, sondern auch im Alltag lebte – seien es Entwürfe für neue Kleider, Bleistiftskizzen und Aquarelle für Schmuck- und Gebrauchsgegenstände – bestimmten meine Kindheit bis zum Beginn eines achtjährigen Martyriums, das einen Teil meines Lebens nutzlos und nachhaltig vernichten sollte: meiner Mittelschulzeit in Graz. Und auch diese herrliche, gleichzeitig verrückte Bora ging mir in dieser Stadt ohne Meer entsetzlich ab. Gott sei Dank konnte ich mich schon in der Unterstufe heimlich aus dem katholischen Internat durch einen Hinterausgang des Sportplatzes davonstehlen und wichtige Termine wahrnehmen. Nämlich Besuche bei meiner Großtante Clara, die ein herrlich antiquiertes Fotoatelier neben der Kirche hinter dem Mariahilferplatz betrieb, samt verwildertem Garten, Musikpavillon und Igelhaus. Von ihr wurde ich stets mit frischgebackenen Kokosbusserln, Mandelkeksen und Husarengebäck aus sehr rumhaltigem Teig verwöhnt, von dem sich auch ihre alte, überaus beleibte Schäferhündin Asta zu ernähren schien. Auf ihrem Wohnzimmertisch zwischen Teigkrümeln, mit selbstangesetzten Liqueuren gefüllte Glasflacons, Kaffee- und Kakaotassen versuchten meine Großtante und ich stets eine wachsende Ansammlung von ausgearbeiteten Fotoabzügen zu ordnen und mit einem Büttenmesser zu beschneiden. Mindestens einen halben Meter hoch war dieser Bilderberg, und die Kunden meiner Großtante verzweifelten immer wieder ob der langen Lieferzeiten. Besonders über einen Auftrag von Hochzeitsbildern, die meine Großtante in Marburg in der Untersteiermark anfertigte, amusierten wir uns königlich. Die Bilder tauchten erst nach einem Jahr auf – das Ehepaar war gerade frisch geschieden.

Das Leben in der Stadt der Bora. Die Tochter des Gottes der Winde wird in Segna geboren, herrscht in Fiume und stirbt in Triest. Abb. links: La Bora di Trieste – Passeggio S. Andrea. Abb. Mitte: Die Seile der Stadtverwaltung sind legendär. An ihnen konnte man sich festhalten oder angurten, wenn es die Bora allzu stark trieb. Abb. rechts: Tuschzeichnung „Benedetta la Bora de Trieste / che alle belle ragazze alza la veste“ aus dem alten Caffè Stella Polare, das während der angloamerikanischen Besetzung in einen Tanzsaal umgebaut wurde, in dem amerikanischen Soldaten Bekanntschaft mit Schönheiten aus Triest schließen konnten. Abb.: © Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste.

Besuche bei meinem Großonkel Benno, der sein Atelier am Karmeliterplatz direkt am Schloßbergaufgang betrieb. Er erzählte von seinem Bruder Uto, der in Addis Abeba Privatsekretär des letzten Kaisers von Abessinien, S. M. Haile Selassie, war. Und über die Reisen auf seiner Puch, die ihn in den zwanziger Jahren am Landweg bis nach Peking geführt hatte. Die einzigen Gepäcksstücke – sein ganzer Stolz – eine Schraubleica, sowie Stativ, Zahnbürste und englisches Bienenwachs zum Polieren der Motorradstiefel. Von ihm lernte ich viel über Lichtsetzung in der Portraitphotographie sowie den Umgang mit Lasurfarben bei der Pinselretusche.

Abb. links: Uto Kahr, Privatsekretär S. M. Kaiser Haile Selassie in Addis Abeba. Ein Replikat seines Ordens trug er in Europa stets als Krawattennadel. Seinen goldenen Bleistift am Revers – ein Geschenk des Kaisers – trage ich seit vielen Jahren (siehe das Foto in der Rubrik ÜBER MICH). Abb. Mitte: Der Orden vom Siegel Salomons (durch Kaiser Yohannes IV. von Abessinien im Jahr 1874 als Verdienstorden gestiftet). Abb. rechts: S. M. Haile Selassie, Kaiser von Äthiopien, Neguse Negest (König der Könige), 225. Nachfolger des Königs Salomon. Abb.: © Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste.

Er war ein Meister seines Fachs und beherrschte auch die Nachbearbeitung von Schwarz-Weiß-Negativen und Glasplatten. Stundenlang beobachtete ich ihn, wie er auf den Schichtseiten durch feine Schraffierungen Schatten und kleine Fältchen aufhellte.

Nach unrühmlichen Auftritten war meine Laufbahn im Marieninstitut am Ende der Unterstufe beendet. Die zwangsweise Dislozierung ins musisch-pädagogische Gymnasiums am Hasnerplatz machte die nächsten Jahre bis zur Matura etwas erträglicher. Meine Mutter, die keine große musische Veranlagung hatte, kommentierte:

Die 70er-Jahre: Abb. links: Dr. Alfred Fontano von Zwentendorf mit den Swing Brothers beim Internationalen Jazzfestival in Montreux, 1970. Abb. rechts: Neben Triest existierten bis 1976 Ateliers am Tivoli in Ljubljana und im Bezirk Geidorf in Graz. Abb.: © Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste.

„Du hast mein Leben zerstört!” Meine Großmutter meinte dazu sehr amusiert: „Bravo caro bambino – tu sei in libertà.”

Zwecks Durchführung von Bildaufträgen für eine Tageszeitung, Vorbereitung kleinerer Ausstellungen von eigenen Graphiken und Photographien sowie künstlerischer Séancen auch unter Einwirkung verschiedenster phantastischer Substanzen, besuchte ich den Unterricht selten. Meinen Vater Yuliy Vladimir Baron von Sagostin konnte das nicht beunruhigen. Als Schloßherr, nächst Kronstadt, verkrochen in seinem transsylvanischen Anwesen und nur einmal monatlich als Leibarzt von höchsten Funktionären der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken tätig, pilotierte er eine seiner zahlreichen Maschinen zwischen Moskau und Bukarest. Wenn er nicht gerade mit Ana Aslan im Casino von Constanța speiste oder neue Procainpräparate ausprobierte. Ich sah ihn sehr selten. In meinem Leben vielleicht dreimal. Öfters sah ich meinen Stiefvater, den Chemiker, Philosophen, Opern-, Jazz- und Venedigenthusiasten Alfred Fontano Ritter von Zwentendorf, der bei Amadeo Graf Silva-Tarouca am philosophischen Institut in Graz promovieren durfte – zusammen mit seinem Studienfreund Rudolf Haller. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, die zu einem späteren Anlass genauer erwähnt werden muß.

Abb. links: Vlad III. Drăculea, Abb. Mitte: Dr. Yuliy Vladimir Baron von Sagostin, Abb. rechts: Григорий Ефимович РаспутинGrigori Jefimowitsch Rasputin. © Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste. Neben seinen medizinischen und photographischen Tätigkeiten forschte mein Vater in rumänischen und russischen Archiven nach Dokumenten und Aufzeichnungen über den walachischen Fürsten Draculea (Vlad Țepeș) – sozusagen sein transsylvanischer Schloßnachbar – sowie über den Geistheiler Grigori Jefimowitsch Rasputin, dem er als Kind in St. Petersburg bei einem Tee-Empfang der Romanows persönlich begegnet war. Rasputin war meinem Vater aufgrund der erfolgreichen paranormalen Heilungungsmethoden und der krankheitslindernden Wirkung seiner übernatürlichen Kräfte zeitlebens ein Vorbild als Mediziner.

Und auch noch eine weitere Geschichte, jene von der Kindheit meiner Großmutter in Triest, wird zu erzählen sein.

Von James Joyce, der im Nebenhaus wohnte und sie öfters nach der Schule auf eine heiße Schokolade in die Pasticceria Pirona einlud, wo er gerne seine Texte überarbeitete. Gerade diese Erinnerungen, ihre An­ek­do­ten über das einzigartige Flair des habsburgischen Triest und die literarische Szene in dieser österreichisch-slawisch-italienisch geprägten Stadt am Meer, ihre Erzählungen über Italo Svevo, Lina Galli, Umberto Saba, Scipio Slataper, Giani Stuparich, Roberto Bazlen, Boris Pahor, Alma Morpurgo und viele andere Autorinnen und Autoren haben meine graphischen und photographischen Tätigkeiten maßgeblich beeinflusst. Nicht zu vergessen der österreichische Geheimdiplomat, Journalist, Publizist und Statistiker Chevalier Louis Antoine Debrauz de Saldapenna, der 1811 in Triest geboren, lange Zeit in Paris lebte.

Und verschiedenste Erzählungen über Kaffeehäuser wie Caffè San Marco, Tommaseo, Stella Polare, Caffè degli Specchi, Tergesteo, Torinese, Urbanis, Pirona, Torinese und Penso gilt es auch zu notieren…

Im Caffè San Marco, Via Cesare Battisti, Triest 2018. Lieblingsort u. a. von Italo Svevo, James Joyce, Umberto Saba, Giani Stuparich, Giorgio Voghera, Fulvio Tomizza, Scipio Slataper und Claudio Magris. Letzterer startete 2013 mit Stammgästen eine erfolgreiche Kampagne gegen die Schließung des Cafés. Seitdem ist im linken Flügel des Etablissements eine Buchhandlung untergebracht. Sozusagen ein literarischer Fluß, der sich zwischen literarischen Stränden – gegenüberliegenden Reihen von Marmortischen – mäanderartig seinen Weg bahnt. Besonders zwei Schriftsteller haben diesem Café ein poetisches Denkmal in Form außerordentlicher Zuneigung errichtet: Stelio Vinci (Al Caffè San Marco. Storia Arte e Lettere di un Caffè Triestino, Edizioni Lint, Trieste, 1995 und Caffè San Marco. Un secolo di storia e cultura a Trieste 1914-2014, Comunicarte, Trieste 2014.) und Claudio Magris (Die Welt en gros und en Détail, Kapitel Café San Marco, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1999). Abb.: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.

…und Erinnerungen an hunderte Spaziergänge im Schloßpark von Miramare. Die feierliche Stimmung, die immer am 18. August spürbar war…

Ein Sommerabend im Schloßpark von Miramare, Triest 1982. Auf dem Weg von der Marina Protetta zum Laghetto delle ninfee. Ein Testbild mit der Sinar meiner Großmutter. Um Plattenwechsel zu vermeiden, der Einfachheit halber mit eingeschobener 220er-Rollfilmkassette fotografiert. Abb.: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.

…und von Gustav Ritter von Kahr…

…Jurist und Politiker, der 1862 in Weißenburg geboren wurde und von März 1920 bis September 1921 als bayerischer Ministerpräsident und Außenminister amtierte. Dr. Gustav von Kahr wurde nach dem sogenannten Röhm-Putsch im Juni 1934 im KZ Dachau ermordet. Der Schriftsteller Thomas Mann notierte darüber am 6. Juli 1934 in sein Tagebuch: Am kennzeichnendsten vielleicht die scheußliche Ermordung des alten Kahr in München, die einen politisch völlig unnötigen Racheakt für Verjährtes darstellt. Es zeigt sich da, was für ein Kujon dieser Mensch [Hitler] ist, den viele für besser als seine Bande halten, was für ein Vieh mit seinen Hysterikerpfoten, die er für Künstlerhände hält (Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934; Hrsg. v. Peter de Mendelsohn; S. Fischer Verlag, 1977).


Abb. von links nach rechts: Dr. Gustav von Kahr als Regierungspräsident von Oberbayern im Jahre 1922 (Foto Wilhelm Kahr); Silberne Ta­ba­ti­e­re mit der Abbildung eines Schauguldiners von 1507 (Wappen der Herzöge in Bayern); Gustav von Kahr im Arbeitszimmer der Präsidentschaftskanzlei 1920; Das Wappen des Königreichs Bayern (bis 1918); Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934; Ein Geschenk zur Ernennung zum bayerischen Ministerpräsidenten – die silberne Zigarettendose aus dem Jahre 1920 mit dem Wappen der Weimarer Republik (1919-1933). Abb.: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin (Sammlung Hertha Kahr, Trieste)

…und letztlich auch von Alois Kahr…

Hofrat Dr. Alois Kahr war multilingual. Er beherrschte 16 Sprachen in Wort und Schrift. Zusätzlich viele russische, tschechische und ungarische Regiolekte. Als Dechiffrier-Spezialist half ihm seine außerordentliche mathematische Begabung. So konnte er sogar im Kopf polyalphabetische Übertragungen durchführen, ohne auf die Hilfe von Rotor-Schlüssel-Maschinen angewiesen zu sein. Spezialisiert hatte er sich auf die Verschlüsselungsmethode der Fialka-Modelle – sozusagen eine Weiterentwicklung der Enigma – die mit 10 Rotoren arbeiteten. Er beschäftigte sich aber nicht nur mit Kryptologie, sondern war auch als Kulturattaché in Moskau, Bukarest, Prag und Ostberlin tätig. Von ihm werde ich in meinem Blog noch erzählen. Seine Zeit, die er im Ostblock während des Kalten Krieges verbrachte, war spannender als viele Romane und Filme, die abwehrdienstliche Handlungen zum Inhalt haben. Einer geheimdienstlichen Intrige zum Opfer gefallen, erlebte er nicht mehr den Austausch gegen einen in Moskau in der Lubjanka einsitzenden US-Beamten und starb 1970 in der Krankenabteilung der Strafanstalt Stein in Österreich.

Abb. links: mechanische Taschenuhr von Exacta-Vostok aus den UdSSR. Abb. Mitte: 1-Rubel Münze zum 100. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin. Darunter: Schlüsselscheiben einer Fialka M125-3MN. Foto: Paul Hudson (Lizenz). Die Fialka war eine sowjetische Chiffriermaschine mittels Schlüsselscheiben, die in zahlreichen Ländern des Warschauer Pakts eingesetzt wurde. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Fialka M-125MN ab dem Jahr 1968 verwendet. Das Folgemodell, die Fialka M-125-3MN folgte 1978. rechts: Medaille als Bronzeteller zum 100 Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin aus der DDR (Sonderauflage für die SED-Betriebsparteiorganisation im MfS). Abb. außer Fialka-Foto: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.
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