07. Aug 2020

Mit meinem Sohn Samuel auf der Giudecca – Erinnerungen und Recherchen

Wir haben wie immer unser Zuhause nächst der Haltestelle Zitelle. Hier, auf der Giudecca, in der Casa Frollo, wohnte ich das erste Mal im September 1960, als ich sechs Wochen alt war. In der Folge kehrte ich 30 Jahre hier ein. Seit dieser Zeit hat sich leider viel verändert. Nicht nur der kleine Friseursalon zwischen Casa Frollo und Casa dei Tre Oci – Enrico Maria Salerno drehte hier 1970 seinen wunderbaren Film Anonimo Veneziano – existiert schon viele Jahrzehnten nicht mehr. Auch die romantische Pensione selbst (un piccolo e delizioso albergo veneziano), ein Zufluchtsort vieler Literaten, bildender und darstellender Künstler, wurde Ende der 80er-Jahre geschlossen. Selbst das Komitee zur Erhaltung der Casa Frollo unter dem Vorsitz des Mailänder Anwalts Giovanni Salvati konnte dies nicht verhindern. Dieses Kuratorium wurde von langjährigen Gästen aus Frankreich, England, Deutschland und den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen, um den Palazzo zu erwerben und dessen unverändertes Weiterbestehen zu sichern. Auch die Tageszeitung La Repubblica engagierte sich für dieses Haus und widmete dem Thema Comitato di difesa Casa Frollo viele redaktionelle Beiträge (u. a.: Prima che Casa Frollo chiuda, 18 febbraio 1988). In den USA war das Interesse der Stammgäste besonders groß. Beispielweise erschien in der New York Times am 10. August 1986 der ausführliche Artikel There’s No Place Like a Pensione. Darin beschreibt die Journalistin das Haus folgendermaßen: The Casa Frollo is perhaps the most romantic of the Venetian pensioni, with its almost palpable ghosts of strait-laced chaperones and their charges poring over Baedekers in the straightbacked chairs or strolling in the large garden behind the pensione, faithfully following in Ruskin’s footsteps on their Grand Tour. Leider blieb jeglicher Einsatz unbelohnt. Nach einem Jahrzehnt des Stillstands gehört die Casa Frollo seit 2011 nun zur Bauer-Hotelgruppe und wird als Villa F. verkauft. Das erinnert sehr an den Namen eines einschlägigen Etablissements. Die Gestaltung des Interieurs würde dazu passen – eine Melange aus vulgärem Luxus und glanzlos-glamouröser Staffage. Der Preis für eine Übernachtung – senza colazione – bewegt sich im vierstelligen Eurobereich. Russische Oligarchen sind eventuell ein neues Klientel. Glücklicherweise konnte Nicolas Roeg 1972 noch einige Szenen seines Films Don’t Look Now mit Julie Christie und Donald Sutherland im Salon des damals noch unrenovierten Palazzo mit seiner dezent-vornehmen Ausstrahlung realisieren. Ich erinnere mich, daß mein Stiefvater das ganze Filmteam zu einem Umtrunk unweit des Drehortes einlud. In eine heute nicht mehr existierende Osteria, die sich an der Ecke des Hauses Fondamenta Croce und Rio della Croce befand und eine kleine, im Seitenkanal schwimmende Terrasse hatte.

Mein Stiefvater, Dr. Alfred Fontano von Zwentendorf, doziert 1978 auf Burano über Hemingways Saufgelage in Venedig. Seine Erstausgabe von Across the River and into the Trees, deren Umschlagbild von Adriana Ivancich gezeichnet wurde. Darauf ein “Dunhill Art Deco Gold Lighter“, sein Lieblingsfeuerzeug, das meine Großmutter in den 60er-Jahren gebraucht bei einem Juwelier in der Calle Fondaco dei Tedeschi erworben hat. Sechsjährig stehe ich 1966 vor der Casa Frollo. Jonny ohne Filter – diese Zigarettenpackung meines Stiefvaters habe ich nie weggeraucht. Sie liegt stets ungeöffnet vor meinen Hemingway-Ausgaben. Abb.: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin, Alfred Fontano von Zwentendorf.

Wir sitzen zusammen im Rosengarten, wo mein Stiefvater mit mir jeden Sommer saß und Unmengen seiner Lieblingszigarettensorte Jonny ohne Filter rauchte. Drohten sie auszugehen, wurde Herr Gadjia, ein braungebrannter, vornehmer Herrenfahrer, stets in Maßblazer und mit englischer Clubkrawatte, im Café Columbia in Graz angerufen. Mit seinem beeindruckenden, weißwandbereiften Opel Diplomat V8 brachte er dann Nachschub – einige Stangen Zigaretten und die aktuelle Ausgabe der Wochenpresse – vom Grazer Bismarckplatz zur Piazzale Roma nach Venedig. In den 60er-Jahren lebte noch die Hausbesitzerin, eine Dame der venezianischen Aristokratie. Persönlich kontrollierte sie täglich die Zubereitung der Speisefolgen in ihrer imposanten Küche, die mit historischem, gußeisernen Kochgeschirr drapiert war. Und auch Signore Aldo Soto lebte noch – genoß das Sonnenlicht sommers wie winters in seinem Savonarolastuhl, eingehüllt in dicke Wolldecken. Ein pensionierter Offizier, der unter den Königen Umberto I. und Viktor Emanuel III. gedient hatte. Sein Cousin Hugo de Soto, ein kubanisch-amerikanischer Künstler, in den 60er-Jahren einige Jahre im Dachgeschoß der Casa Frollo wohnhaft, fertigte wundervolle Federzeichnungen von der Giudecca an – beispielweise besonders feine Interieuransichten des Salons mit dem Canale della Giudecca und San Marco im Hintergrund. Viele amerikanische Künstlergäste nahmen diese Werke als Erinnerung in die Staaten mit. Es war das Jahrzehnt nach Hemingways letztem Besuch, dem Zusammentreffen mit seiner überirdisch schönen Muse Adriana Ivancich und der Publikation des aus dieser Begegnung enstandenen Romans Across the River and into the Trees.

Abb. von links nach rechts: 1970 – Film Still aus Enrico Maria Salernos Film Anonimo Veneziano – im Hintergrund die Casa dei Tre Oci und rechts daneben die Casa Frollo. Unvergesslich die Melodien des Filmkomponisten Stelvio Cipriani. Mein Stiefvater 1976 vor der Casa Frollo. Eine Federzeichnung des Hauses von Hugo de Soto aus dem Jahr 1966. Das Originalplakat zu Nicolas Roegs Film “Don’t Look Now“, im deutschsprachigen Raum unter dem Titel “Wenn die Gondeln Trauer tragen“ bekannt. Einige Szenen dieser Produktion spielen in der Casa Frollo. Die wunderschön gestaltete Website The LondoNerD mit einem Beitrag über den Film und die Casa Frollo. © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin

Landvenedig

Spaziergänge auf der Insel San Francesco nel Deserto. Auf Torcello. Auf San Lazzaro. Im Mechitaristenkloster die Bibliothek der Handschriften in Armenisch und Griechisch. Das Konsultationsbuch mit der Besuchereintragung Lord Byrons. Im Empfangszimmer das Gemälde des Kaisers von Österreich neben dem Portrait des türkischen Sultans. Die Brücken der orientalischen und der abendländischen Kultur sind hier offensichtlich. Bildnerisch, architektonisch und im historischen Sinne sprichwörtlich. Gläsernes Murano. Mond- und Straßenlampen beleuchten Weinpokale und Becher. Nächtliche Photographien von Vasen und Kelchen, deren reflektiertes Licht an den Schein geschliffener Edelsteine erinnert. … als wenn es mit Diamanten unter den weissen geschlängten Streiffen versetzet … schrieb Adam Ebert in seiner italienischen Reisebeschreibung unter dem Pseudonym Aulus Apronius 1724.

Stadtvenedig: Kerzenbeleuchtete Wandaltäre in einsamen Gassen – Landvenedig: Blitzende Glasobjekte im nächtlichen Murano. © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin

Stadtvenedig

Die Mauern der Universität Ca’ Foscari breiten Abendschattenstreifen im letzten Kanalsonnenlicht aus. Die Stadt schwärzt sich. Kerzen im Gotteswinkel tauchen den Madonnenleib, vom rostigen Gitterbogen beschützt, in flackerndes Licht. Das Antlitz des Jesuskindes ist hinter welken Rosen verborgen. Fischgeruch und Brackwasserdunst sind das Parfum der Theaterbühne, das sich durch die engen Gassen der Nacht seinen Weg bahnt. Am Ende einer Spätmesse mischt sich darüber hinaus eine leise Spur von Weihrauch zu diesem olfaktorischen Ornament. Eine himmlische Szenerie der Hölle. Oder die höllische Szenerie des Himmels? Deo gratias ist Venedig die Stadt der Trinker. Gegen den nächtlichen Durst und als Labung gibt es Wein – ombra – und viele Sorten Grappe im Übermaß. Den atemberaubend eleganten Cleopatra Moscato Oro muß ich besonders hervorheben. Zwischen dem Durchreisen zweifelhafter Kaschemmen in Santa Croce und letztklassiger Touristenfallen um San Marco ist es notwendig, den Besuch gepflegterer Etablissements ins Auge zu fassen. Der Genuß eines Buona notte Amigos in der Cipriani Bar, von Maestro Bolzonella persönlich gemixt, ist so unvergesslich, wie eine gelungene Fenice-Premiere. Als Erfrischung bietet sich zwischendurch auch ein Sgroppino an der Bar Longhi des Hotel Gritti an. Oder der unübertroffene Venetian Cobler in der Arts Bar des The St. Regis Venice, der nachweislich gegen flügelschlagende venetianische Löwen hilft. Sie umkreisen nämlich gerne in vampiristischer Manier meinen Kopf, wenn die Nacht im Sterben liegt. Mein Stiefvater hat mir dagegen schon früh sein Geheimnis verraten: Bei Barbesuchen empfiehlt es sich, immer drei gleiche Drinks hintereinander zu bestellen. So vermeidet man das unselige Cocktail-Potpourri und gedenkt gleichzeitig der letzten drei Besuche Ernest Hemingways in Venedig 1948, 1950 und 1954. Erst sehr spät sollte der letzte trockene Martini folgen. Im Morgengrauen. Dann fliegt ein Doppeldecker über die Insel San Michele. Igor Strawinsky, Ezra Pound und Sergei Pawlowitsch Djagilew erweisen dem Piloten als erste Sonnenstrahlen des Morgens ihre Hochachtung.

Abb. links: Papa Ernest Hemingway in Harry’s Bar – eine Photographie mit Widmung an meinen Stiefvater. Mitte: Aus meiner photographischen Serie “Venice Night“: … Im Morgengrauen. Dann fliegt ein Doppeldecker über die Insel San Michele … Abb. rechts: Le Giornate in Villa Ivancich – Erinnerung an eine wundervolle Veranstaltung in der Villa Ivancich in San Michele al Tagliamento im Jahre 2017 über die Freundschaft zwischen Ernest Heminway und Conte Gianfranco Ivanchich. Es moderierte Roberto Vitale, Präsident des “Premio Giornalistico Papa Ernest Hemingway“ aus Caorle. Gäste waren Richard Owen, Schriftsteller und Journalist der Times, Rosella Mamoli Zorzi, Amerikanistin und Professorin an der Università Ca’ Foscari in Venedig sowie der Militärhistoriker Massimiliano Galasso und natürlich die Tochter von Conte Ivancich, Irina Ivancich Biaggini. Reproduktionen: © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin


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