31. Aug 2020

Über Dunkelheit und Licht – Casa dei Tre Oci | Ruth Landshoff-Yorck | Mario de Maria

Nach Mitternacht.

Die Kandelaber an der Station Zitelle sind abgeschaltet. Das nächste Vaporetto legt erst im Morgengrauen an. Um fünf Minuten nach vier Uhr früh. Casa Frollo, San-Giovanni-Kai und Fondamenta Zitelle sind in völlige Dunkelheit getaucht. Vor mir die Casa dei Tre Oci. Flackerndes Kerzenlicht in der Beletage? Lichtblitze in den drei Augen des Hauses? Der Klang mundgeblasener Champagnerschalen beim zaghaften Anstoßen? Laute und leise Stimmen – aufgebrachte Schreie dazwischen? Hie und da ein Toben, Deklamieren und Lamentieren? Von lautem Gesang unterbrochen? Im Hintergrund Klavierklänge? Der Schatten schemenhafter Tänzer auf seidenen Portieren? Schreie Liebender, die aus einem halbgeöffneten Fensterflügel dringen? Livrierte Diener mit Flambeau am Treppenaufgang? Eine venezianische Abendgesellschaft? Eine Soiree in einem venezianischen Palazzo, wie sie die deutsch-amerikanische Schauspielerin und Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorck in ihrem Roman Die Schatzsucher von Venedig beschreibt? Schicksalhafte Fügungen, die ein amerikanisches Geschwisterpaar mit ihrer nächtlichen Gästeschar durchlebt. Entthronte Könige, ein erfolgreicher Theaterregisseur, reiche und exaltierte Witwen, Revolutionäre aus Südamerika und verarmte italienische Aristokraten, die sich ein Stelldichein geben. Alle sind sie auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Heiligtum – ihrem Glücksgut. Das Abhandenkommen einer kostbaren Brosche, einem kunstvollen Band von Diamantrosen, das von Saphiren und Smaragden unterbrochen ist, löst eine überhastete nächtliche Suchaktion aus. Das kann sich doch heute Nacht in der Casa dei Tre Oci nicht abspielen! Anfang der 30er-Jahre spielt ja die Handlung des Romans. In einem anderen venezianischen Palazzo und nicht im Wohnhaus von Mario de Maria (Marius Pictor), dem Maler, Architekten und Photographen aus der Emilia Romagna. 1912 und 1913 entwarf er dieses außergewöhnliche Gebäude im neogotischen Stil, um seiner über alles geliebten Tochter Silvia ein Denkmal zu setzten. Sie verstarb früh – 1905. Die drei großen Spitzbogenfenster an der Fassade sollen die lebenden Familienmitglieder De Maria darstellen – Mario de Maria, Gattin Emilia und Sohn Astolfo. Das Doppelfenster darüber ist ein Symbol für die kleine Verstorbene. … Mentre Silvietta è rappresentata da una piccola bifora che li sovrasta romanticamente … wie die Venedigexpertin Laura Bumbalova so schön beschreibt.

Poscritto Numero Uno

Il pittore delle lune, wurde Mario de Maria von Gabriele D’Annunzio genannt, da er es mit der Komposition nächtlicher Landschaften zur Meisterschaft gebracht hat. Es ist für mich immer eine Freude, sein monumentales Werk Fine di un giorno d’estate in der Galleria Internazionale d’Arte Moderna Ca’ Pesaro zu betrachten. Veduten und Straßenszenen, in Dämmergrau getaucht, gehören zu den eindrucksvollsten Werken des Künstlers – Finsternis und Lichtschein, hinterleuchtete Durchgänge zwischen dunklen Palazzi, Fassaden im Nachtlicht, illuminierte urtümliche Baumstämme im Finstern. Wie in seinem Ölbild Il Mulino del Diavolo. Ein Maler, der Düsternis mit Mondlicht bestrahlt. Ein großes Vorbild für mich. Als Photograph im Dunkeln. Als nächtlicher Wanderer, der die Route zur letzten offenen Bar auf der Giudecca einschlägt.

Poscritto Numero Due

Bis in die späten 80er-Jahre logierten in der Casa dei Tre Oci internationale Künstler. Beispielsweise der Italiener Vittore Grubicy de Dragon, der nach Italien ausgewanderte armenische Maler Gregorio Sciltian, Friedensreich Hundertwasser, Pegeen Vail Guggenheim (Tochter von Peggy Guggenheim und Laurence Vail), Giorgio Morandi, der Avantgardist Lucio Fontana – durch seine Schnittbilder berühmt geworden – sowie Dario Fo (Theaterautor, Regisseur, Bühnenbildner, Komponist, Erzähler, Satiriker und Schauspieler). Der Architekt Renzo Piano wohnte hier zuletzt. Salvador Dalí, Jean Hélion, Ralph Rumney, Gregor von Rezzori und natürlich meine Großmutter Hertha Kahr machten ihre Aufwartung. 1970 drehte Enrico Maria Salerno einige Szenen seines Films Anonimo Veneziano (mit Florinda Bolkan und Tony Musante in den Hauptrollen) im Obergeschoß des Gebäudes. Nach einer längeren, sehr behutsamen Restaurierung durch die Fondazione di Venezia und der Wiedereröffnung im Jahre 2012 ist dieser Palazzo exclusiver Ausstellungsraum und Zentrum für Photographie. Workshops, Seminare, Konferenzen und wichtige monografische Ausstellungen internationaler Photographen – Elliott Erwitt, Sebastião Salgado, Berengo Gardin, René Burri, Helmuth Newton, David LaChapelle – vervollständigen das Spektrum des Hauses. Es beherbergt auch die Fotosammlung der Fondazione di Venezia sowie das Archivio Italo Zannier, das eine riesige Bibliothek sowie 2.000 Fotografien vom 19. Jahrhundert bis in die Neuzeit umfasst.

Poscritto Numero Tre

In der Bar Zitelle neben der Casa dei Tre Oci traf ich heute den kubanischen – seit vielen Jahrzehnten auf der Giudecca wohnenden – Künstler Domingo de la Cueva, der mir Anekdoten über meinen Stiefvater erzählt. Beide wohnten Anfang der 70er-Jahre Tür an Tür in der Casa Frollo. Er erinnert sich auch an viele niemals publizierte biographische Details über Mario de Maria und Gregorio Sciltian. Letzteren besuchte er oft in seinem Atelier auf der Giudecca. Domingo de la Cueva selbst ist nicht nur Creatore di gioielli, sondern auch Designer delikater Preziosen, die er mit seinem Freund Gianni Pappacena erstmals 1974 in den USA ausstellte. Als modèle exceptionnel präsentierte Paloma Picasso immer wieder gerne seine außergewöhnlichen Schmuckstücke.

Poscritto Numero Quattro

Liselotte Hohs, Giudecca 1990. © Robert W. Sackl-Kahr Sagostin. Eintrittskarte und Notizblock der XXXI Biennale di Venezia, 1962. Portrait Liselotte Hohs mit einer umseitigen Widmung von Paolo Monti … per amico e collega Hertha Kahr …, 1962. Objekte: Collezione Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.

In der Bar Zitelle trank ich am gleichen Tag auch mit Signora Liselotte Hohs (Animal Magnetism – Una nuova grande mostra della maggiore textile artist a Venezia – Sale Monumentali della Biblioteca Nazionale Marciana) einen Frühstückskaffee. Um einige Schwimmlängen zu absolvieren, war sie gerade zum Morgensport auf dem Weg von der Zitelle-Station ins Hotel Cipriani an der Fondamenta S. Giovanni. Die in Venedig lebende Malerin, selten in ihrer Wiener Villa anwesend oder bei ihrem Enkel zu Besuch in Graz, ist eine überaus charmante Dame, die gerne außergewöhnlichen, modernen Schmuck trägt. Ihr zauberhafter Garten inmitten von Dorsoduro, voller Statuen und Skulpturen, die sich zwischen mediterranen Pflanzen verstecken, ist berühmt. Trotz ihres leicht vorgerückten Alters ist in Signora Hohs’ Herzen bis heute das strahlende junge Mädchen mit spritzigem Geist präsent. Im vorigen Jahrhundert mit Gregorio Sciltian, Pegeen Vail Guggenheim und vielen anderen Künstlern eng befreundet, bündelt sie mittels ihrer Erinnerungen ein riesiges Archiv der untergegangenen venezianischen Kunstszene. An unser erstes Treffen kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Es war auf der Biennale 1962 und ich war genau zwei Jahre alt. Sie war der Star der Eröffnung und wurde vom italienischen Architekturphotographen Paolo Monti als l’angelo dell’arte inszeniert. Im selben Jahr fand auch ihre vielbeachtete Ausstellung in der Galleria Toninelli in Rom statt.


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