Venezianische Mysterien. Intime Bälle, geheimnisumrankt, fast konspirativ. Verschwiegenheit über ausschweifende Festlichkeiten im Palazzo Balbi-Valier. Unterdrücktes Prinzessinnenlachen aus dem Dickicht eleganter, mit dunkelrotem Brokat bespannter Fauteuils. Ausschließlich Kerzenlicht erhellt den Ballsaal, diskret und voller Elegance. Interieur, Roben und Uniformen beschränken sich auf eine noble Palette von gedämpften Grau-, gedeckten Ocker- und satten Rottönen. In beinahe erblindete Spiegel werfen vergoldete Masken Lichtblitze, Sternschnuppen, die an den trüben, verglasten Wänden wie Leuchtfeuer aufblitzen. Ein intimes und der Öffentlichkeit versperrtes Paradies, das ich Zigarre rauchend, mit dem Blick des gelangweilten Voyeurs, erkunde. Vor der Fensterfront, die den Blick auf den Canalezzo freigibt, beginnt das Barockorchester zu spielen. Eine der Vivaldi-Triosonaten da camera für zwei Violinen und Basso continuo.
Venetiarum amplissima & maritima urbs cum multis circumiacentibus insulis/Cosmographia universalis, Sebastian Münster, 1550. La Cosmographia universalis di Sebastian Münster, pubblicata in più edizioni a partire dal 1544, è la prima descrizione del mondo in lingua tedesca. Proprietà privata, Venezia. Riproduzione: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.
Am Buffet werden Schalen mit Polentapralinés gereicht, auf denen kunstvolle Türmchen aus gedrehten Kalbsleberstreifen arrangiert wurden. Mit Zwiebeln, Olivenöl, Weißwein und Salbei zubereitet – die klassische Art der heimischen Delikatesse fegato alla veneziana. Dazu gekühlter Venissa Bianco von der Isola di Mazzorbo. Zum Champagner danach Mandorlini, Panna Cotta auf Erdbeercarpaccio, Sfogliatelle und Amarettini, drapiert auf Ziertellern aus historischem Muranoglas.
Das mitternächtliche Gedränge auf der Tanzfläche ist beängstigend. Die Leiber der rotierenden Gäste werden aneinandergepresst, verknoten sich zu einem wogenden, ekstatischen Knäuel. Ein olfaktorisches Gesamtkunstwerk, in seiner Sinnlichkeit nicht zu übertreffen: die Vermählung von Zigarrendunst, der Duft von Ambra, Orangenblüte und exotischen Parfums, Schweißgeruch, den Ballkleidern erhitzter Tänzerinnen anhaftend, sowie ausgeatmeter süßlicher Rauch ägyptischer Zigaretten.
Weit nach Mitternacht. Nächtliche Schritte, begleitet von rhythmischem Schellenklang auf der Holzbrücke, die den Hof des Palazzo mit der vis-à-vis gelegenen Fondamenta verbindet. Vielleicht venezianische Schnallenschuhe, die dieses Klingen und Stampfen verursachen? Ist es der 1355 enthauptete Doge Marino Falier, noch immer auf der Suche nach seinem Kopf? Nächtens, vor dem Dogenpalast, tönt stets das Echo seines leisen Wimmerns. Wer sind die eleganten Herren in Uniform, die gerade am Buffet plaudern? Welcher Familie entstammt die junge Dame im schwarz-goldenen Ballkleid, deren Hals ein samtenes Kropfband ziert? Eine florale Brosche aus Diamanten und Perlen hält es zusammen. Ist es die berühmte Sopranistin und Schauspielerin Lina Cavalieri, die demnächst an der Metropolitan Opera in New York City auftreten wird? War Antonio Vivaldi der Gründer des ersten Frauenorchesters, als Musiklehrer im Ospedale della Pietà, dem Waisenhaus für junge Mädchen? Haben im 16. Jahrhundert wirklich 11.000 Kurtisanen auf der Insel residiert? War es Henry James, der, auf die unüberschaubare Menge von Werken der bildenden Kunst und Literatur anspielend, über Venedig schrieb: „Keine andere Stadt auf der Welt kann man so leicht besichtigen, ohne sie je aufsuchen zu müssen“? In der Ca’ Dario wurde Filippo Giordano delle Lanze, Graf von Turin, Kunst- und Antiquitätenexperte, tot aufgefunden. Ermordete ihn sein Liebhaber, der kroatische Seemann?
Mysteriöse Geschichten und Mirakel, die mir in dieser Ballnacht durch den Kopf gehen. Fragen über Fragen. Wie dachte Conte Alvise Tron so herrlich zeitabgewandt im Werk des Berliner Literaturwissenschaftlers und Kunsthistorikers Nicolas Remin, Gondeln aus Glas:
Tron seufzte und lehnte sich wieder in die Polster zurück. Er schloss die Augen. Noch ein, zwei Jahrtausende, und diese Stadt würde keine Geheimnisse mehr für ihn bergen.
Die Nächte der kalten Jahreszeit, beherrscht vom scharfen Atem der graugrün-gläsernen Rii durchwache ich gerne, in dem ich auf der Giudecca am Tresen einer Bar vor frühmorgendlicher Sperrstunde, alkoholisch gewärmt, wiederholt Werke des in Graz 1942 geborenen Schriftstellers Gerhard Roth lese, die in Venedig spielen.
Wunderbar skizziert der Autor in seinem Roman Die Irrfahrt des Michael Aldrian die winterliche Lagunenstadt. Der Protagonist Aldrian, Maestro suggeritore an der Wiener Staatsoper und Freizeitzauberkünstler, überquert gerade die Rialtobrücke, um den Weg entlang der Arkadenbögen des Fischmarktes zum Haus seines Bruders einzuschlagen. Gerhard Roth beschreibt an dieser Stelle die Wetterkapriolen der vom Hochwasser heimgesuchten Stadt: Die Flocken fielen schräg vom Himmel, der milchig und grau war. Später notiert er: Die Fernsehantennen wackelten und nickten leicht im Wind, wie Pflanzen aus Draht. Oder auch: Zwei Kirchtürme … waren … wegen des niedrigen, grauen Himmels nur schattenhaft zu erkennen. Also sei dieser Roman schon allein wegen der Beschreibung winterlicher Kulissen den leidenschaftlichen Flaneuren, die sich gerne in den kalten Schluchten Venedigs bewegen, innig ans Herz gelegt – sozusagen frostig anempfohlen.
Piazza San Marco a gennaio, 1930s. Foto: autore sconosciuto, Archivio Fotografico Hertha Kahr, Trieste. Riproduzione: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.
Der Romanheld Roths, der seine Tätigkeit als Souffleur in der Wiener Staatsoper nach einem Ohrinfarkt beenden muß, beschließt einen ungewöhnlichen, sehr individuellen Reiseführer über die Lagunenstadt zu verfassen. Er besucht deshalb San Servolo, von Einheimischen als Insel der Wahnsinnigen bezeichnet, durchwandert den verschneiten Park sowie die Gebäude der ehemaligen Psychiatrie. Seit 1725 wurden hier geistig Kranke untergebracht, zunächst ausschließlich Patienten aus wohlhabenden Familien, die es sich leisten konnten, für Kost und Logis aufzukommen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ein Irrenhaus für Männer und Frauen eingerichtet – heute das Museo del Manicomio beherbergend. Es ist nunmehr auch Sitz des Istituto per le Ricerche e gli Studi sull´Emarginazione Sociale e Culturale, das durch eine Stiftung des Europarates um das Europäische Zentrum Venedig für die Berufe in der Denkmalpflege (Centro Europeo di Venezia per i Mestieri della Conservazione del Patrimonio Architettonico) 1977 erweitert wurde. Mit seinem Freund und Kollegen Lorenzo Verra, tätig als Maestro suggeritore im Teatro La Fenice bespricht sich der Protagonist des Romans im Maurischen Zimmer des Caffè Florian bei Pfefferminztee und Keksen. Durch einen Aufseher des Museo Fortuny hat er Gelegenheit, die oberen Etagen des Palazzo Pesaro degli Orfei zu erkunden, das verschlossene Atelier des Universalkünstlers Mariano Fortuny y Madrazo, Magazine und Bibliotheken, gefüllt mit Gemälden, afrikanischen Büsten, Totenmasken, Wildtierskeletten, alten Atlanten und historischen Fotoalben. Nicht zuletzt erforscht Michael Aldrian den Palazzo Ducale, ergeht sich in der Schönheit von Stuckaturen und Deckenfresken, philosophiert über Terrazzo-Fußböden, die das Licht spiegeln, erinnert sich an Zeugnisse, die von Gefangenen im Keller und in den Bleikammern erhalten sind sowie an die Flucht Casanovas über die Palastdächer. Im Laufe des Romans wird er auch vom Direktor der Biblioteca Marciana, Dr. Marino Zorzi, empfangen, mit dem er die unzählbar vielen Räume seines Gebäudes durchschreitet, … sie überquerten Brücken voller Bücher, die durch Räume voller Bücher in die nächsten Räume voller Bücher führten.
An diesem Werk begeistert mich besonders die Beschreibung der winterlichen Exkursionen des Protagonisten. Die Handlung tritt mir in den Hintergrund. Über Verlauf und Abfolge will ich daher nur so viel verraten: Eingebettet ins Ambiente des Karnevals und dem Unbill des Winterwetters wird Michael Aldrian, der mit Beatrice, einer Journalistin und Vertrauten seines in der Lagunenstadt lebenden Bruders und dessen Frau – beide sind auf rätselhafte Weise verschwunden – eine Liaison beginnt, immer tiefer in geheimnisvolle, kriminelle Machenschaften verwickelt. Der plötzlichen physischen Überforderungen und den intellektuellen Strapazen dieser Verbrechensgeschichte, wie sie der Autor selbst tituliert, ausgeliefert, versinkt Aldrian in albtraumhaften Zuständen. Seine plötzliche Empfindungslosigkeit, Passivität und sein anmaßendes Verhalten münden abrupt in Ausbrüchen von Gereiztheit und Raserei. Zuschauer- und Täterschaft der Hauptperson werden in diesem Werk von Gerhard Roth eins, ein Amalgam aus Irrsinn, venezianischen Märchengeschichten und literarischer Räuberpistole – der Legende nach lügen Venezianer ja auch famos, ausufernd und versuchen sich in ihren Geschichten stets zu übertreffen.
Klammert man die Kriminalgeschichte aus, ist der Roman selbst jener unkonventionelle Reiseführer, den die Hauptperson Michael Aldrian im Sog der Ereignisse niemals fähig sein wird, zu schreiben. Und dieser endet wie in Roths frühem, vor fast 40 Jahren erschienenen, größtenteils auch in Venedig spielenden Werk Winterreise mit einem sprichwörtlichen Abflug ins Ungewisse. Die letzten Sätze in Die Irrfahrt des Michael Aldrian (2017 erschienen) lauten: „Irgendwann“, sagte Beatrice zu ihm, als sie im Flugzeug Platz genommen hatten, „werden wir zur Ruhe kommen. Und dann“, sie machte eine kurze Pause, „erzählst Du mir, wie es wirklich war.“ Der Roman Winterreise, erschienen 1978, in dem der Autor schildert, wie ein Lehrer am Silvestertag seinen Beruf aufgibt, um mit seiner Freundin eine Reise durchs winterliche Italien zu begehen, schließt folgend: Als es hell wurde, fuhr Nagl nach Mestre. Er konnte den Engel am Himmel nicht mehr sehen. Von Mestre nahm er einen Bus zum Flughafen Marco Polo und löste ein Ticket nach Fairbanks, Alaska.
Ich liebe die venezianischen Schatten der Nacht. Sie haben die Farbe chinesischer Tusche. Einen ganz speziellen Ton von dumpfem Schwarz, der sich in Tintorettos Tiefen findet. Dieses Schwarz fängt das Streiflicht. Hinterlässt mit leuchtendem Weiß gehöhte Malerei. Die durchdringendsten Kontraste – intensivstes Chiaroscuro – finde ich nach Mitternacht in den engen Gassen Venedigs. Über kleine Kanäle führend, unter ihren steinernen Brückenbögen, wo die Schwärze ins Unendliche reicht, sammelt sich mikroskopisch kleines, reflektierendes Lampenglühen, wie mit Speerspitzen in Asche geritzt. Besonders intensiv entlang der Calle Castagna, wo sie den Rio de San Zanirovo quert, parallel zur Calle de la Corona. Weißblutende hauchzarte Schnitte von Rasierklingen im Schwarz. Die Lichtregie von Caravaggio, where dramatic chiaroscuro becomes a dominant stylistic device. Genannt Tenebrismo – Caravaggios spezielle Methode, Formen mit Schlagschatten und Spitzlichtern bis zur Abstrahierung zu modellieren. Gemalte Low-key-Photographie am Ende des 15. Jahrhunderts. Aggressiv tanzen grelle Lichtpunkte auf schwarzen Wasserflächen. Zuckende Reflexionen, begierig nach Aufmerksamkeit. Strahlenkegel, die in ihrem Geflimmer kalligraphische Muster zeichnen. In der Schnelligkeit ihres Aufblitzens vergehen sie schon. Ein Sterben während der Geburt. Metropolis-Illuminierung mit einer Lichtregie, die Robert Wiene im Film Das Cabinet des Dr. Caligari Anfang der 20er-Jahre anwandte.
Diese Lichtschatten werden stets begleitet durch den sphärischen Klang der Violine von Olga Rudge. Er wandert entlang der Rios, läuft über Brücken, durchweht Campi und sucht sich zwischen den Blumen der Giardini einen Rasenpolster zum Ausruhen. Durcheinandergewürfelte Kompositionsfragmente von Mozart, Bach, Vivaldi und George Antheil scheinen es zu sein, vielleicht von Rudges Haus in der Calle Querini auf einer Frequenz ausgestrahlt, in der sich Licht und Schatten die Nacht teilen, kopulierend Einswerden.
Zurück auf der Giudecca empfängt mich die samtene Schwärze der Fondamenta Croce. Richtung Redentore überquere ich die Brücke und höre schon das Klavierspiel von Aurélie, meiner Frau, aus dem Fenster an der Fondamenta auf Höhe des Convento Santissimo Redentore. Fast gegenüber der Villa delle Rose, die am Rande des Giardino Eden am Wasser steht. Meisterhaft spielt sie nächtens oft La Valse und schickt Maurice Ravels Wiener Musik, die er in seiner Komposition mit impressionistischer Rhythmik ausgeweitet zu einem Tanz wirbelnder Derwische anschwellen läßt, in die Fluten des Rio della Croce. In einer Orgie aus Gewalt und Chaos endend, prallt dieses Poème choréographique pour Orchestre, mit ihren dissonanten Schlußharmonien stakkatoartig auf die Wasserfläche des Rio della Croce. The orchestra reaches a dance macabre coda, and the work ends with the final measure as the only one in the score not in waltz-time. L’orchestra raggiunge la Coda come una danse macabre in cui la melodia sfatta nei suoi aspetti cromatici e con i glissandi dei tromboni assurge a una connotazione grottesca.
In Herbst- und Frühlingsnächten, in denen undurchsichtige Dunstschleier wie schwarze Wäschestücke – Totenhemden – über dem Kanal hängen, explodiert diese Musik förmlich und vereint sich mit der Finsternis der Insel. Einer Giudeccafinsternis, die den Abgesang auf die Reflexion heller Kronleuchter in den Palazzi entlang des Canale probt. Bizarre Lichtblitze, radioaktiv verseuchter, leuchtender Adern androgyner Frauen gleich, kontrapunktieren die unendliche Schwärze. In dieser Nacht aber spielt meine Frau nicht Ravel. Sie trägt Werke von Liszt und Brahms vor, auf der Klaviatur ihres Konzertflügels, der durch die Launen des Wetters und die Feuchtigkeit Venedigs unmäßig oft gestimmt werden muß. Ein Instrument, das in den 20er-Jahren direkt von der Hamburger Steinway-Fabrik in der Schanzenstraße auf die Insel geliefert wurde. Der Flügel von undurchdringbarer Schwärze, in dessen glänzender Oberfläche sich natürlich auch die zuckenden kalligraphischen Muster der nächtlichen Strahlenkegel spiegeln, zurückgeworfen vom unruhigen Wasser des Rio della Croce.
Die Nacht naht. Noch schneiden Gondeln glitzernde Striemen ins Meer. Schiffsschrauben der Vaporetti peitschen die Flut, verbiegen Wellenspitzen zu Tränentälern, schäumen die Spiegelung verfallender Palazzi in abstrahierte Unkenntlichkeit. Zuckende Abendsonnenstrahlen ertrinken im Canale della Giudecca. Im Zentrum der Lagune auf unruhiger Wasserfläche ein taumelndes Schiffchen aus Zeitungspapier. Ein schwimmender Hut, dessen Feder einem Segel gleicht. Ein verlorenes Kinderspielzeug auf großer Fahrt ins Unendliche. Oder eine Möwe, die wippend in einem Schaukelstuhl auf San Giorgio Maggiore zutreibt. Anlegemanöver. Wie die rostigen Angeln einer Kirchentür knarrt das Tau beim Festmachen. Der Dieselantrieb lässt das Holz des Bootsbodens erzittern. Es tönt nach gefährlichem Hundeknurren. Im Wellengewirr des anklatschenden Wassers vereinzelt Engelsgesang, vibrierende Markuslöwenlieder eines imaginären, übersinnlichen Chores.
Der Schritt vom Boot auf das Plateau des schwimmenden Anlegehäuschens ist kurz. Ein schneller Weg von schaukelnden Plattformen auf festen Grund – auf die behauenen Felsblöcke der von Holzpfeilern getragenen Fondamenta. The Stones of Venice … Vorbei an Casa Frollo und Casa dei Tre Oci, in der gerade der französische Photograph, Maler und Schriftsteller Jacques Henri Lartigue präsentiert wird.*** Auf beiden Seiten des Eingangs killen die Werbebanner der Ausstellung wie Segel im Wind. Nur ein paar Schritte weiter, Richtung Andrea Palladios Santa Maria delle Presentazione, ist die Bar Zitelle geöffnet. Mit einem Glas Vecchia Romagna und einer filterlosen Senior Service stehe ich jeden Abend am Kai und beobachte, wie sich am gegenüberliegenden Ufer die Kandelaber entzünden. Eine Bühnenbeleuchtung, die das San-Marco-Panorama mit goldenem Glasstaub aus Murano zu bedecken scheint. Irgendwann hat Harold Brodkey (Aaron Roy Weintraub) die Illumination Venedigs treffend phrasiert: Das Licht fährt zwischen und über die Gebäude, es kitzelt die Wasserflächen.
Nach Mitternacht: der Weg nach Hause. Meine forschen, geradezu in den steinernen Untergrund gemeißelten Schritte synkopieren den ins Gedächtnis gebrannten Text: The Cantos. Ezra Pound:Will I ever see the Giudecca again? – or the lights against it … Olga Rudge – mit dem Dichter für immer Seite an Seite auf der Insel San Michele – spielt für ihn auf imaginären Bühnen Sujet pour violin. Both lives pierced by arrows – Beider Leben von Pfeilen durchbohrt. Both lives united for eternity only after death – Beide Leben erst nach dem Hinscheiden geeint. Und das Danteske Chaos davor? Es ist in John Berendts Werk Die Stadt der fallenden Engel nachzulesen … (The book tells the story of some exceptional inhabitants of Venice, whom the author met while living there in the months following a fire which destroyed the historic La Fenice opera house in 1996.)
From left to right:The City of Falling Angels, Penguin Press / London 2005 (The book tells the story of many American and English expatriates who went to live in Venice, from Daniel Curtis, who owned Palazzo Barbaro where Henry James and John Singer Sargent were guests, to the poet Ezra Pound, who lived the last part of his life in Venice with his long-time mistress Olga Rudge). Olga Rudge and Ezra Pound: „What Thou Lovest Well…“ by Ann Conover / Yale University Press 2001. (A loving and admiring companion for half a century to literary titan Ezra Pound, concert violinist Olga Rudge was the muse who inspired the poet to complete his epic poem, The Cantos, and the mother of his only daughter, Mary.) The City of Falling Angels – paperback edition, Sceptre 2006.
***Jacques Henri Lartigue – L’invenzione della felicità, curata da Marion Perceval e Charles-Antoine Revol, rispettivamente direttrice e project manager della Donation Jacques Henri Lartigue, e da Denis Curti, direttore artistico della Casa dei Tre Oci, è organizzata da Civita Tre Venezie e promossa da Fondazione di Venezia, in stretta collaborazione con la Donation Jacques Henri Lartigue di Parigi, con il patrocinio del Ministero della Cultura francese. 11.07.2020 – 10.01.2021, venerdì-domenica, 11-19)
***Jacques Henri Lartigue –The Invention of happiness, curated by Marion Perceval and Charles-Antoine Revol, respectively director and project manager of Donation Jacques Henri Lartigue, and Denis Curti, artistic director of the Casa dei Tre Oci, is organised by Civita Tre Venezie and promoted by Fondazione di Venezia, in close collaboration with Donation Jacques Henri Lartigue in Paris, under the patronage of the French Ministry of Culture. July 11, 2020 – January 10, 2021, Friday – Sunday, 11am -7pm)
From left to right:Un dandy à la plage de Bernard Toulier (Les grandes séquences de la vie de Jacques Henri Lartigue (1894-1986) recoupent celles de l’histoire balnéaire française, de la découverte du monde marin à celle du tourisme de masse) / La Decouverte, 2016. Jacques Henri Lartigue (The selection of photographs reproduced here represents the best examples of his most popular themes) / Editions Flammarion, 2019. The Invention of Happiness (A charming portrait of early-20th-century European society through the lens of Lartigue, with 55 unpublished photographs) / Marsilio Editori, 2020. Life in Color de Martine D’Astier (Lartigue, la vie en couleurs se présente comme une magnifique occasion de découvrir un pan inédit de l’œuvre de Jacques Henri Lartigue, ses clichés en couleurs n’ayant été jusqu’ici que très partiellement montrés et restant, dans leur grande majorité, parfaitement inconnus) / Abrams, 2016
Abb. von links nach rechts: André Masson „Dormeuse à la Casa Frollo“, 1962. Photographie: Alfred Fontano von Zwentendorf, 1962. Ausstellungskatalog Domingo de la Cueva, Venezia 1974. „L’Illusione Di Sciltian – Inganni Pittorici Alla Prova Della Modernità“, Ausstellunskatalog, herausgegeben von Stefano Sbarbaro, Edizioni Polistampa, Firenze 2015 (The catalogue of a great retrospective exhibition staged in Florence, at Villa Bardini, from 3 rd April to 6th September 2015, covers the entire artistic life of Gregorio Sciltian, which develops over a period of more than sixty years. The book reproduces oil paintings, drawings and graphic works from major national museums such as Uffizi Gallery in Florence, National Gallery of Modern Art in Rome, Gallery of Modern and Contemporary Art in Bergamo and Pinacoteca Vaticana, as well as paintings from the artist’s personal collection now housed at Vittoriale of Gardone Riviera (Brescia) and other private funds. The volume also includes a selection of works by other authors selected on the basis of stylistic and inspirational affinity or contrast: in addition to Pietro Annigoni and other members of the group of Modern Realist Painters, there are paintings by artists such as Giorgio de Chirico, Carlo Socrates, Renato Guttuso, Aligi Sassu). Kataloge und Reproduktionen: Collezione Robert W. Sackl-Kahr Sagostin.
Auf der Giudecca glichen die Jahre 1961 und 1962 einem Füllhorn voll von ästhetischer Unruhe und kreativem Geist. Es ergoß sich in Form unzählbarer, stilistisch verschiedenster und einzigartiger bildnerischer Schöpfungen über die ganze Welt. Das Gros künstlerischer Aktivität schien sich in der Casa Frollo und benachbart in der Casa dei Tre Oci zeitgleich abzuspielen. Gregorio Sciltian entwarf eine Serie von großdimensionierten dipinti religiosi, u. a. sein Hauptbild Il Bettesimo di Gesu für die Basilica romano del Sacro Cuore Immacolato di Maria. André Masson, der französische Maler, Graphiker und Bildhauer, logierte im ersten Stock der Casa Frollo und brachte seine privaten Eindrücke auf der Giudecca mit Bleistift und Kreide zu Papier. In ihrer Erotik und zeichnerischen Genialität sind sie fast mit seinen frühen Radierarbeiten für Louis Aragons Werk Le Con d’Irène(Irènes Möse) vergleichbar. Der Kubaner Domingo de la Cueva entwarf eine Etage darüber erste futuristische Schmuckkollektionen, die er Jahre später mit seinem Freund Gianni Pappacena in New York präsentierte.
Zeitgleich hatte Friedensreich Hundertwasser mit seiner Retrospektive bei der XXXI. Biennale 1962 großen Erfolg. Wohnhaft auf der Giudecca, verliebte er sich sofort in den historischen Giardino Eden unweit der Casa Frollo. Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Garten vom Engländer Frederik Eden und seiner Frau Caroline aus einer ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Fläche erschaffen. Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, George Bernard Shaw, Gabriele D’Annunzio, Ernest Hemingway, Jean Cocteau und Eleonora Duse besuchten dieses Areal immer wieder, das im 16. Jahrhundert erstmals von Mönchen genutzt wurde. Nach Caroline Edens Tod im Jahr 1928 kaufte Prinzessin Aspasia von Griechenland das Anwesen. Ihre Tochter Alexandra von Griechenland, die mit Peter II. Karađorđević, dem ins Exil verbannten König von Jugoslawien, verheiratet war, schrieb in diesem Garten ihre Memoiren For a King’s Love (The Intimate Recollections of Queen Alexandra of Yugoslavia).
Detail aus der Karte Venice. – Published by the Society for the Diffusion of Useful Knowledge, 59. Lincoln’s Inn Fields, July 15, London 1838. Man erkennt die aufwändigen Gartenanlagen auf der Giudecca in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich um die Chiesa di Santa Croce erstreckten. Das grün umrahmte Feld markiert die aktuelle Größe des Giardino Eden.
1979 erwarb Hundertwasser über seine Schweizer Firma Namida AGdieses Anwesen – den fast 15.000 Quadratmeter großen Garten samt dem Palazzo Villa delle Rose an der Fondamenta della Croce. Zu seinen Lebzeiten war die Immobilie im Besitz der Grüner Janura AG – einer weiteren Aktiengesellschaft Hundertwassers in der Schweiz. Leider ist dieses Paradies versperrt und nicht besuchbar. In den Versen John MiltonsParadise Lostlebt das Grundstück mit den hohen Bäumen und den blumenbewachsenen Wiesen aber für immer weiter: Thus was this place / A happy rural seat of various view: / Groves whose rich trees wept odorous gums and balm; / Others whose fruit burnished with golden rind / Hung amiable.
In anderen Räumen der Casa Frollo wohnte mein Stiefvater, der 1962 seinen Freund Wolfgang von Schaukal – Maler, Volksbildner und Inhaber eines Lehrauftrags für künstlerische Gestaltung an der Technischen Hochschule Graz – mitgebracht hatte. Ihre analytischen Diskussionen über das Werk des Malervaters, des Jugendstilautors Richard von Schaukal, und über Anton Kolig waren unerschöpflich und endeten meist in ausgedehnten Reisen, die durch arkadische Landschaften des hochprozentigen Alkohols führten.
Eine Etage darüber arbeitete der kubanisch-amerikanische Künstler Hugo de Soto an feinen Federzeichnungen von venezianischen Palazzi und deren Gärten. Durch seine persönliche Interpretation des Schattens in der Architekturzeichnung, nämlich den Tiefen durch Weglassungen Form zu geben oder dunkle Bereiche durch Aussparung anzudeuten, erzielte er besonders eindrucksvolle Bildkompositionen. Die Konzertgeigerin und Malerin Hella von Königsbrun – Enkelin des steirischen Malers, Ceylonreisenden und Professors an der Landschaftlichen Zeichenakademie in Graz, Hermann von Königsbrun (1823-1907) – logierte 1961 im Kleinen Salon und arbeitete an aquarellierten Skizzen des Gemüsegartens.
Gemälde und Zeichnungen waren in der Casa Frollo allgegenwärtig. In meiner Erinnerung ist ein Ölbild aus den 50er-Jahren niemals verblaßt, stilistisch der italienischen Hochrenaissance nachempfunden. Es hatte in meinen Kindertagen seinen Platz beim Stiegenaufgang, der im Eingangsbereich in den großen Salon der ersten Etage führte. Es stellte das Doppelportrait eines aristokratisch anmutenden Knaben mit mädchenhaften Zügen dar, das mit einer aufwendig in zopfartiger Form geschnitzten, partiell vergoldeten, preußischblauen Holzleiste gerahmt war. En face und en profil gleichzeitig, sozusagen als Brüderpaar, postiert der junge Venezianer in einem Garten am Canale Grande vor Gondeln, die sich im Hintergrund in weichem Frühlingslicht verlieren. Dieses Bild hat sich in meinem Kopf eingeprägt, da es frappant an die Geschichte Das venezianische Portrait des polnischen Autors Gustaw Herling-Grudziński erinnert. 1946 war er erstmals nach Venedig gereist und von einem englischen Sergeant der Quartierzuteilung im verfallenden Haus der Contessa Giuditta Terzan untergebracht worden, die ihr kümmerliches Gehalt als Restauratorin und Kopistin in der Akademie verdiente. Herling-Grudziński setzt seinen persönlich erlebten venezianischen Szenen über Begehren, Sohnesliebe, Mord und Kunstfälschung, die sich unmittelbar nach dem Kriegsende in der Calle San Barnaba zutrugen, ein Denkmal und dokumentiert seine Entdeckung des unter einem Tuch verborgenen Jünglingsportraits im Stile Lorenzo Lottos. „… eine einfache Geschichte, aber mit solcher Raffinesse verknüpft und mit einer solchen Eleganz erzählt, daß am Ende ein Edelstein funkelt“, schrieb Elke Heidenreich über dieses Werk 1996.
Momentan ist die Casa Frollo wieder geschlossen. Ihre Mutation zur Villa F. war nicht von Erfolg gekrönt. Stets zerstören neureiche Immobilisten, habsüchtige Investoren, närrische Hoteliers und ungebildete, machtgeile Politiker einen beträchtlichen Teil unseres historischen Erbes. Der Garten verwildert – die Rasenflächen stehen hoch und trocken im Nachtlicht. Der Haupteingang ist ohne Information versperrt. Die Luft am Kai ist für eine Spätsommernacht sehr klar. Im Zentrum des schwarzen, wolkenlosen Himmels prangt eine Mondhälfte, die den Wandaltar der Madonna an der Fondamenta-Zitelle-Fassade erleuchtet. Sie blickt mit ihrem schlafenden Jesuskind im Arm auf den Canale della Giudecca und wird dieser im Stil des 17. Jahrhunderts erbauten Villa der Grafen Volpi di Misurata hoffentlich weiter segensreich zur Seite stehen.
Wie schrieb Roberto Bianchin in der La Republica in seinem Artikel Prima che Casa Frollo chiuda am 18. Februar 1988 so treffend, als die bezaubernde und unnachahmliche Signora Flora Soldan nach 30 Jahren auf Betreiben des Conte Giovanni Volpi di Misurata die Casa Frollo räumen mußte: „Es ist wie ein Fenster, das sich bald schließen wird, es vertritt eine venezianische Lebensart, die erlischt. Man muß dort gewesen sein, um zu verstehen. In der Casa Frollo verbrachte ich, wie viele andere auch, intensive, einzigartige, unnachahmliche Tage. Und dieses Haus drang langsam und sanft in mein Herz…” (E’ come una finestra che si sta per chiudere, aggiunge un modo di vivere a Venezia che si spegne. Bisogna esserci stati per capire. A Casa Frollo, come molti altri del resto, ho trascorso giorni intensi, unici, inimitabili. E quella casa mi è entrata lentamente e dolcemente nel cuore…)
Die Kandelaber an der Station Zitelle sind abgeschaltet. Das nächste Vaporetto legt erst im Morgengrauen an. Um fünf Minuten nach vier Uhr früh. Casa Frollo, San-Giovanni-Kai und Fondamenta Zitelle sind in völlige Dunkelheit getaucht. Vor mir die Casa dei Tre Oci. Flackerndes Kerzenlicht in der Beletage? Lichtblitze in den drei Augen des Hauses? Der Klang mundgeblasener Champagnerschalen beim zaghaften Anstoßen? Laute und leise Stimmen – aufgebrachte Schreie dazwischen? Hie und da ein Toben, Deklamieren und Lamentieren? Von lautem Gesang unterbrochen? Im Hintergrund Klavierklänge? Der Schatten schemenhafter Tänzer auf seidenen Portieren? Schreie Liebender, die aus einem halbgeöffneten Fensterflügel dringen? Livrierte Diener mit Flambeau am Treppenaufgang? Eine venezianische Abendgesellschaft? Eine Soiree in einem venezianischen Palazzo, wie sie die deutsch-amerikanische Schauspielerin und Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorck in ihrem Roman Die Schatzsucher von Venedig beschreibt? Schicksalhafte Fügungen, die ein amerikanisches Geschwisterpaar mit ihrer nächtlichen Gästeschar durchlebt. Entthronte Könige, ein erfolgreicher Theaterregisseur, reiche und exaltierte Witwen, Revolutionäre aus Südamerika und verarmte italienische Aristokraten, die sich ein Stelldichein geben. Alle sind sie auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Heiligtum – ihrem Glücksgut. Das Abhandenkommen einer kostbaren Brosche, einem kunstvollen Band von Diamantrosen, das von Saphiren und Smaragden unterbrochen ist, löst eine überhastete nächtliche Suchaktion aus. Das kann sich doch heute Nacht in der Casa dei Tre Oci nicht abspielen! Anfang der 30er-Jahre spielt ja die Handlung des Romans. In einem anderen venezianischen Palazzo und nicht im Wohnhaus von Mario de Maria (Marius Pictor), dem Maler, Architekten und Photographen aus der Emilia Romagna. 1912 und 1913 entwarf er dieses außergewöhnliche Gebäude im neogotischen Stil, um seiner über alles geliebten Tochter Silvia ein Denkmal zu setzten. Sie verstarb früh – 1905. Die drei großen Spitzbogenfenster an der Fassade sollen die lebenden Familienmitglieder De Maria darstellen – Mario de Maria, Gattin Emilia und Sohn Astolfo. Das Doppelfenster darüber ist ein Symbol für die kleine Verstorbene. … Mentre Silvietta è rappresentata da una piccola bifora che li sovrasta romanticamente … wie die Venedigexpertin Laura Bumbalova so schön beschreibt.
Il pittore delle lune, wurde Mario de Maria von Gabriele D’Annunzio genannt, da er es mit der Komposition nächtlicher Landschaften zur Meisterschaft gebracht hat. Es ist für mich immer eine Freude, sein monumentales Werk Fine di un giorno d’estate in der Galleria Internazionale d’Arte Moderna Ca’ Pesaro zu betrachten. Veduten und Straßenszenen, in Dämmergrau getaucht, gehören zu den eindrucksvollsten Werken des Künstlers – Finsternis und Lichtschein, hinterleuchtete Durchgänge zwischen dunklen Palazzi, Fassaden im Nachtlicht, illuminierte urtümliche Baumstämme im Finstern. Wie in seinem Ölbild Il Mulino del Diavolo. Ein Maler, der Düsternis mit Mondlicht bestrahlt. Ein großes Vorbild für mich. Als Photograph im Dunkeln. Als nächtlicher Wanderer, der die Route zur letzten offenen Bar auf der Giudecca einschlägt.
Bis in die späten 80er-Jahre logierten in der Casa dei Tre Oci internationale Künstler. Beispielsweise der Italiener Vittore Grubicy de Dragon, der nach Italien ausgewanderte armenische Maler Gregorio Sciltian, Friedensreich Hundertwasser, Pegeen Vail Guggenheim (Tochter von Peggy Guggenheim und Laurence Vail), Giorgio Morandi, der Avantgardist Lucio Fontana – durch seine Schnittbilder berühmt geworden – sowie Dario Fo (Theaterautor, Regisseur, Bühnenbildner, Komponist, Erzähler, Satiriker und Schauspieler). Der Architekt Renzo Piano wohnte hier zuletzt. Salvador Dalí, Jean Hélion, Ralph Rumney,Gregor von Rezzori und natürlich meine Großmutter Hertha Kahr machten ihre Aufwartung. 1970 drehte Enrico Maria Salerno einige Szenen seines Films Anonimo Veneziano (mit Florinda Bolkan und Tony Musante in den Hauptrollen) im Obergeschoß des Gebäudes. Nach einer längeren, sehr behutsamen Restaurierung durch die Fondazione di Venezia und der Wiedereröffnung im Jahre 2012 ist dieser Palazzo exclusiver Ausstellungsraum und Zentrum für Photographie. Workshops, Seminare, Konferenzen und wichtige monografische Ausstellungen internationaler Photographen – Elliott Erwitt, Sebastião Salgado, Berengo Gardin, René Burri, Helmuth Newton, David LaChapelle – vervollständigen das Spektrum des Hauses. Es beherbergt auch die Fotosammlung der Fondazione di Venezia sowie das Archivio Italo Zannier, das eine riesige Bibliothek sowie 2.000 Fotografien vom 19. Jahrhundert bis in die Neuzeit umfasst.
In der Bar Zitelle neben der Casa dei Tre Oci traf ich heute den kubanischen – seit vielen Jahrzehnten auf der Giudecca wohnenden – Künstler Domingo de la Cueva, der mir Anekdoten über meinen Stiefvater erzählt. Beide wohnten Anfang der 70er-Jahre Tür an Tür in der Casa Frollo. Er erinnert sich auch an viele niemals publizierte biographische Details über Mario de Maria und Gregorio Sciltian. Letzteren besuchte er oft in seinem Atelier auf der Giudecca. Domingo de la Cueva selbst ist nicht nur Creatore di gioielli, sondern auch Designer delikater Preziosen, die er mit seinem Freund Gianni Pappacena erstmals 1974 in den USA ausstellte. Als modèle exceptionnel präsentierte Paloma Picasso immer wieder gerne seine außergewöhnlichen Schmuckstücke.
In der Bar Zitelle trank ich am gleichen Tag auch mit Signora Liselotte Hohs(Animal Magnetism – Una nuova grande mostra della maggiore textile artist a Venezia – Sale Monumentali della Biblioteca Nazionale Marciana) einen Frühstückskaffee. Um einige Schwimmlängen zu absolvieren, war sie gerade zum Morgensport auf dem Weg von der Zitelle-Station ins Hotel Cipriani an der Fondamenta S. Giovanni. Die in Venedig lebende Malerin, selten in ihrer Wiener Villa anwesend oder bei ihrem Enkel zu Besuch in Graz, ist eine überaus charmante Dame, die gerne außergewöhnlichen, modernen Schmuck trägt. Ihr zauberhafter Garten inmitten von Dorsoduro, voller Statuen und Skulpturen, die sich zwischen mediterranen Pflanzen verstecken, ist berühmt. Trotz ihres leicht vorgerückten Alters ist in Signora Hohs’ Herzen bis heute das strahlende junge Mädchen mit spritzigem Geist präsent. Im vorigen Jahrhundert mit Gregorio Sciltian, Pegeen Vail Guggenheim und vielen anderen Künstlern eng befreundet, bündelt sie mittels ihrer Erinnerungen ein riesiges Archiv der untergegangenen venezianischen Kunstszene. An unser erstes Treffen kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Es war auf der Biennale 1962 und ich war genau zwei Jahre alt. Sie war der Star der Eröffnung und wurde vom italienischen Architekturphotographen Paolo Monti als l’angelo dell’arte inszeniert. Im selben Jahr fand auch ihre vielbeachtete Ausstellung in der Galleria Toninelli in Rom statt.
Wir haben wie immer unser Zuhause nächst der Haltestelle Zitelle. Hier, auf der Giudecca, in der Casa Frollo, wohnte ich das erste Mal im September 1960, als ich sechs Wochen alt war. In der Folge kehrte ich 30 Jahre hier ein. Seit dieser Zeit hat sich leider viel verändert. Nicht nur der kleine Friseursalon zwischen Casa Frollo und Casa dei Tre Oci – Enrico Maria Salerno drehte hier 1970 seinen wunderbaren Film Anonimo Veneziano – existiert schon viele Jahrzehnten nicht mehr. Auch die romantische Pensione selbst (un piccolo e delizioso albergo veneziano), ein Zufluchtsort vieler Literaten, bildender und darstellender Künstler, wurde Ende der 80er-Jahre geschlossen. Selbst das Komitee zur Erhaltung der Casa Frollo unter dem Vorsitz des Mailänder Anwalts Giovanni Salvati konnte dies nicht verhindern. Dieses Kuratorium wurde von langjährigen Gästen aus Frankreich, England, Deutschland und den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen, um den Palazzo zu erwerben und dessen unverändertes Weiterbestehen zu sichern. Auch die Tageszeitung La Repubblica engagierte sich für dieses Haus und widmete dem Thema Comitato di difesa Casa Frollo viele redaktionelle Beiträge (u. a.: Prima che Casa Frollo chiuda, 18 febbraio 1988). In den USA war das Interesse der Stammgäste besonders groß. Beispielweise erschien in der New York Times am 10. August 1986 der ausführliche Artikel There’s No Place Like a Pensione. Darin beschreibt die Journalistin das Haus folgendermaßen: The Casa Frollo is perhaps the most romantic of the Venetian pensioni, with its almost palpable ghosts of strait-laced chaperones and their charges poring over Baedekers in the straightbacked chairs or strolling in the large garden behind the pensione, faithfully following in Ruskin’s footsteps on their Grand Tour. Leider blieb jeglicher Einsatz unbelohnt. Nach einem Jahrzehnt des Stillstands gehört die Casa Frollo seit 2011 nun zur Bauer-Hotelgruppe und wird als Villa F. verkauft. Das erinnert sehr an den Namen eines einschlägigen Etablissements. Die Gestaltung des Interieurs würde dazu passen – eine Melange aus vulgärem Luxus und glanzlos-glamouröser Staffage. Der Preis für eine Übernachtung – senza colazione – bewegt sich im vierstelligen Eurobereich. Russische Oligarchen sind eventuell ein neues Klientel. Glücklicherweise konnte Nicolas Roeg 1972 noch einige Szenen seines Films Don’t Look Now mit Julie Christie und Donald Sutherland im Salon des damals noch unrenovierten Palazzo mit seiner dezent-vornehmen Ausstrahlung realisieren. Ich erinnere mich, daß mein Stiefvater das ganze Filmteam zu einem Umtrunk unweit des Drehortes einlud. In eine heute nicht mehr existierende Osteria, die sich an der Ecke des Hauses Fondamenta Croce und Rio della Croce befand und eine kleine, im Seitenkanal schwimmende Terrasse hatte.
Wir sitzen zusammen im Rosengarten, wo mein Stiefvater mit mir jeden Sommer saß und Unmengen seiner Lieblingszigarettensorte Jonny ohne Filter rauchte. Drohten sie auszugehen, wurde Herr Gadjia, ein braungebrannter, vornehmer Herrenfahrer, stets in Maßblazer und mit englischer Clubkrawatte, im Café Columbia in Graz angerufen. Mit seinem beeindruckenden, weißwandbereiften Opel Diplomat V8 brachte er dann Nachschub – einige Stangen Zigaretten und die aktuelle Ausgabe der Wochenpresse – vom Grazer Bismarckplatz zur Piazzale Roma nach Venedig. In den 60er-Jahren lebte noch die Hausbesitzerin, eine Dame der venezianischen Aristokratie. Persönlich kontrollierte sie täglich die Zubereitung der Speisefolgen in ihrer imposanten Küche, die mit historischem, gußeisernen Kochgeschirr drapiert war. Und auch Signore Aldo Soto lebte noch – genoß das Sonnenlicht sommers wie winters in seinem Savonarolastuhl, eingehüllt in dicke Wolldecken. Ein pensionierter Offizier, der unter den Königen Umberto I. und Viktor Emanuel III. gedient hatte. Sein Cousin Hugo de Soto, ein kubanisch-amerikanischer Künstler, in den 60er-Jahren einige Jahre im Dachgeschoß der Casa Frollo wohnhaft, fertigte wundervolle Federzeichnungen von der Giudecca an – beispielweise besonders feine Interieuransichten des Salons mit dem Canale della Giudecca und San Marco im Hintergrund. Viele amerikanische Künstlergäste nahmen diese Werke als Erinnerung in die Staaten mit. Es war das Jahrzehnt nach Hemingways letztem Besuch, dem Zusammentreffen mit seiner überirdisch schönen Muse Adriana Ivancich und der Publikation des aus dieser Begegnung enstandenen Romans Across the River and into the Trees.
Spaziergänge auf der Insel San Francesco nel Deserto. Auf Torcello. Auf San Lazzaro. Im Mechitaristenkloster die Bibliothek der Handschriften in Armenisch und Griechisch. Das Konsultationsbuch mit der Besuchereintragung Lord Byrons. Im Empfangszimmer das Gemälde des Kaisers von Österreich neben dem Portrait des türkischen Sultans. Die Brücken der orientalischen und der abendländischen Kultur sind hier offensichtlich. Bildnerisch, architektonisch und im historischen Sinne sprichwörtlich. Gläsernes Murano. Mond- und Straßenlampen beleuchten Weinpokale und Becher. Nächtliche Photographien von Vasen und Kelchen, deren reflektiertes Licht an den Schein geschliffener Edelsteine erinnert. … als wenn es mit Diamanten unter den weissen geschlängten Streiffen versetzet … schrieb Adam Ebert in seiner italienischen Reisebeschreibung unter dem Pseudonym Aulus Apronius 1724.
Die Mauern der Universität Ca’ Foscari breiten Abendschattenstreifen im letzten Kanalsonnenlicht aus. Die Stadt schwärzt sich. Kerzen im Gotteswinkel tauchen den Madonnenleib, vom rostigen Gitterbogen beschützt, in flackerndes Licht. Das Antlitz des Jesuskindes ist hinter welken Rosen verborgen. Fischgeruch und Brackwasserdunst sind das Parfum der Theaterbühne, das sich durch die engen Gassen der Nacht seinen Weg bahnt. Am Ende einer Spätmesse mischt sich darüber hinaus eine leise Spur von Weihrauch zu diesem olfaktorischen Ornament. Eine himmlische Szenerie der Hölle. Oder die höllische Szenerie des Himmels? Deo gratias ist Venedig die Stadt der Trinker. Gegen den nächtlichen Durst und als Labung gibt es Wein – ombra – und viele Sorten Grappe im Übermaß. Den atemberaubend eleganten Cleopatra Moscato Oro muß ich besonders hervorheben. Zwischen dem Durchreisen zweifelhafter Kaschemmen in Santa Croce und letztklassiger Touristenfallen um San Marco ist es notwendig, den Besuch gepflegterer Etablissements ins Auge zu fassen. Der Genuß eines Buona notte Amigos in der Cipriani Bar, von Maestro Bolzonella persönlich gemixt, ist so unvergesslich, wie eine gelungene Fenice-Premiere. Als Erfrischung bietet sich zwischendurch auch ein Sgroppino an der Bar Longhi des Hotel Gritti an. Oder der unübertroffene Venetian Cobler in der Arts Bar des The St. Regis Venice, der nachweislich gegen flügelschlagende venetianische Löwen hilft. Sie umkreisen nämlich gerne in vampiristischer Manier meinen Kopf, wenn die Nacht im Sterben liegt. Mein Stiefvater hat mir dagegen schon früh sein Geheimnis verraten: Bei Barbesuchen empfiehlt es sich, immer drei gleiche Drinks hintereinander zu bestellen. So vermeidet man das unselige Cocktail-Potpourri und gedenkt gleichzeitig der letzten drei Besuche Ernest Hemingways in Venedig 1948, 1950 und 1954. Erst sehr spät sollte der letzte trockene Martini folgen. Im Morgengrauen. Dann fliegt ein Doppeldecker über die Insel San Michele. Igor Strawinsky, Ezra Pound und Sergei Pawlowitsch Djagilew erweisen dem Piloten als erste Sonnenstrahlen des Morgens ihre Hochachtung.
Ein sehr entfernter, gedämpfter und beruhigender Lichteinfall durch das Glasdach des Ateliers meiner Großmutter in Triest, wahrgenommen im Kinderwagen. Sie benutzte gern das Tageslicht und formte es mit einem System aus über- und nebeneinander verschiebbaren Leinenvorhängen.
Also ein klassisches Fotoatelier der alten Zeit, dessen Oberlicht vermutlich meine ersten Wahrnehmungen und die daraus folgenden Tagträume bestimmte. Zu diesem Diarium des Erinnerns gesellten sich Geräusche aus ihrem Fotolabor sowie das Pfeifen der Bialettimaschine – einer alten Moka Express -, stets gefolgt vom sich sich ausbreitenden Duft frischen Kaffees.
Meine Großmutter mit Garibaldi dem Silberspitz im Atelier des Urgroßvaters, Triest 1909
Ateliertafel mit dem Schriftzug von 1902
Anprobe in der Via Barriera Vecchia, Triest 1922. Im dritten Stock des Gebäudes gegenüber dem Fotoatelier, im Hause der Apotheke Picciola, wohnte zwischen 1910 und 1912 übrigens James Joyce. Es verwundert daher nicht, daß er so oft mit größtem Vergnügen die Konditorei Pirona aufsuchte.
Später, in meiner Volksschulzeit, durfte ich in Großmutters geheimem Reich, meinem Kindheitsparadies, uneingeschränkt schalten und walten. Da gab es Magazine mit ausrangierten, teilweise reparaturbedürftigen Atelierkameras samt hölzernen Rollstativen des Urgroßvaters aus Berlin. Er wanderte wegen der klimatischen Bedingungen Ende des 18. Jahrhunderts nach Triest aus und brachte viele Geräte mit, die meine Großmutter teilweise in den 1960er-Jahren noch benutzte. In ihrer Sammlung befanden sich Objektivstandarten, Objektive, Negativkassetten, ausrangierte Balgen und wunderbar gestaltete Sperrholzschachteln, in denen zur Jahrhundertwende Albuminpapier verschickt wurde. Alles spannender und großartiger Ersatz für Spielzeug, das mich wenig interessierte: langweilige Eisenbahnmodelle, Spielautos, Legobaukästen und nutzloses Holzspielzeug. Außerdem entdeckte ich die schönsten Theaterrequisiten. Unzählige eingerollte, schon teilweise von Motten angeknabberte Landschaftshintergründe, grisaillebemalte Textilstoffe, auf denen feudale Interieurs oder arkadische Landschaften abgebildet waren, um den im Atelier gefertigten Portraits im Hintergrund eine Andeutung von Exklusivität, herrschaftlicher Privatheit oder entspannter Atmosphäre zu verschaffen.
Meine Großmutter erklärte mir früh die Grundlagen der Photographie. Gemeinsam experimentierten wir mit Kollodiumplatten, einer Technik der Frühzeit. Zur Herstellung von Nassplatten benutze ich viel später, Anfang der 80er-Jahre, gerne schon verwendete Gläser, die ich partiell abgeschabt, mit Lösungen von Kollodiumwolle, Iod- und Bromsalzen in Ethanol und Äther übergoss, um sie nach Trocknung und einer Behandlung mit Silbernitrat neuerlich zu verwenden.
Dieser Rausch aus Kreativität und nicht enden wollendem Einfallsreichtum, den meine Großmutter nicht nur in der Photographie, sondern auch im Alltag lebte – seien es Entwürfe für neue Kleider, Bleistiftskizzen und Aquarelle für Schmuck- und Gebrauchsgegenstände – bestimmten meine Kindheit bis zum Beginn eines achtjährigen Martyriums, das einen Teil meines Lebens nutzlos und nachhaltig vernichten sollte: meiner Mittelschulzeit in Graz. Und auch diese herrliche, gleichzeitig verrückte Bora ging mir in dieser Stadt ohne Meer entsetzlich ab. Gott sei Dank konnte ich mich schon in der Unterstufe heimlich aus dem katholischen Internat durch einen Hinterausgang des Sportplatzes davonstehlen und wichtige Termine wahrnehmen. Nämlich Besuche bei meiner Großtante Clara, die ein herrlich antiquiertes Fotoatelier neben der Kirche hinter dem Mariahilferplatz betrieb, samt verwildertem Garten, Musikpavillon und Igelhaus. Von ihr wurde ich stets mit frischgebackenen Kokosbusserln, Mandelkeksen und Husarengebäck aus sehr rumhaltigem Teig verwöhnt, von dem sich auch ihre alte, überaus beleibte Schäferhündin Asta zu ernähren schien. Auf ihrem Wohnzimmertisch zwischen Teigkrümeln, mit selbstangesetzten Liqueuren gefüllte Glasflacons, Kaffee- und Kakaotassen versuchten meine Großtante und ich stets eine wachsende Ansammlung von ausgearbeiteten Fotoabzügen zu ordnen und mit einem Büttenmesser zu beschneiden. Mindestens einen halben Meter hoch war dieser Bilderberg, und die Kunden meiner Großtante verzweifelten immer wieder ob der langen Lieferzeiten. Besonders über einen Auftrag von Hochzeitsbildern, die meine Großtante in Marburg in der Untersteiermark anfertigte, amusierten wir uns königlich. Die Bilder tauchten erst nach einem Jahr auf – das Ehepaar war gerade frisch geschieden.
Besuche bei meinem Großonkel Benno, der sein Atelier am Karmeliterplatz direkt am Schloßbergaufgang betrieb. Er erzählte von seinem Bruder Uto, der in Addis Abeba Privatsekretär des letzten Kaisers von Abessinien, S. M. Haile Selassie, war. Und über die Reisen auf seiner Puch, die ihn in den zwanziger Jahren am Landweg bis nach Peking geführt hatte. Die einzigen Gepäcksstücke – sein ganzer Stolz – eine Schraubleica, sowie Stativ, Zahnbürste und englisches Bienenwachs zum Polieren der Motorradstiefel. Von ihm lernte ich viel über Lichtsetzung in der Portraitphotographie sowie den Umgang mit Lasurfarben bei der Pinselretusche.
Er war ein Meister seines Fachs und beherrschte auch die Nachbearbeitung von Schwarz-Weiß-Negativen und Glasplatten. Stundenlang beobachtete ich ihn, wie er auf den Schichtseiten durch feine Schraffierungen Schatten und kleine Fältchen aufhellte.
Nach unrühmlichen Auftritten war meine Laufbahn im Marieninstitut am Ende der Unterstufe beendet. Die zwangsweise Dislozierung ins musisch-pädagogische Gymnasiums am Hasnerplatz machte die nächsten Jahre bis zur Matura etwas erträglicher. Meine Mutter, die keine große musische Veranlagung hatte, kommentierte:
„Du hast mein Leben zerstört!” Meine Großmutter meinte dazu sehr amusiert: „Bravo caro bambino – tu sei in libertà.”
Zwecks Durchführung von Bildaufträgen für eine Tageszeitung, Vorbereitung kleinerer Ausstellungen von eigenen Graphiken und Photographien sowie künstlerischer Séancen auch unter Einwirkung verschiedenster phantastischer Substanzen, besuchte ich den Unterricht selten. Meinen Vater Yuliy Vladimir Baron von Sagostin konnte das nicht beunruhigen. Als Schloßherr, nächst Kronstadt, verkrochen in seinem transsylvanischen Anwesen und nur einmal monatlich als Leibarzt von höchsten Funktionären der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken tätig, pilotierte er eine seiner zahlreichen Maschinen zwischen Moskau und Bukarest. Wenn er nicht gerade mit Ana Aslan im Casino von Constanța speiste oder neue Procainpräparate ausprobierte. Ich sah ihn sehr selten. In meinem Leben vielleicht dreimal. Öfters sah ich meinen Stiefvater, den Chemiker, Philosophen, Opern-, Jazz- und Venedigenthusiasten Alfred Fontano Ritter von Zwentendorf, der bei Amadeo Graf Silva-Tarouca am philosophischen Institut in Graz promovieren durfte – zusammen mit seinem Studienfreund Rudolf Haller. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, die zu einem späteren Anlass genauer erwähnt werden muß.
Und auch noch eine weitere Geschichte, jene von der Kindheit meiner Großmutter in Triest, wird zu erzählen sein.
Von James Joyce, der im Nebenhaus wohnte und sie öfters nach der Schule auf eine heiße Schokolade in die Pasticceria Pirona einlud, wo er gerne seine Texte überarbeitete. Gerade diese Erinnerungen, ihre Anekdoten über das einzigartige Flair des habsburgischen Triest und die literarische Szene in dieser österreichisch-slawisch-italienisch geprägten Stadt am Meer, ihre Erzählungen über Italo Svevo, Lina Galli, Umberto Saba, Scipio Slataper, Giani Stuparich, Roberto Bazlen, Boris Pahor, Alma Morpurgo und viele andere Autorinnen und Autoren haben meine graphischen und photographischen Tätigkeiten maßgeblich beeinflusst. Nicht zu vergessen der österreichische Geheimdiplomat, Journalist, Publizist und Statistiker Chevalier Louis Antoine Debrauz de Saldapenna, der 1811 in Triest geboren, lange Zeit in Paris lebte.
Und verschiedenste Erzählungen über Kaffeehäuser wie Caffè San Marco, Tommaseo, Stella Polare, Caffè degli Specchi, Tergesteo, Torinese, Urbanis, Pirona, Torinese und Penso gilt es auch zu notieren…
…Jurist und Politiker, der 1862 in Weißenburg geboren wurde und von März 1920 bis September 1921 als bayerischer Ministerpräsident und Außenminister amtierte. Dr. Gustav von Kahr wurde nach dem sogenannten Röhm-Putsch im Juni 1934 im KZ Dachau ermordet. Der Schriftsteller Thomas Mann notierte darüber am 6. Juli 1934 in sein Tagebuch: Am kennzeichnendsten vielleicht die scheußliche Ermordung des alten Kahr in München, die einen politisch völlig unnötigen Racheakt für Verjährtes darstellt. Es zeigt sich da, was für ein Kujon dieser Mensch [Hitler] ist, den viele für besser als seine Bande halten, was für ein Vieh mit seinen Hysterikerpfoten, die er für Künstlerhände hält(Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934; Hrsg. v. Peter de Mendelsohn; S. Fischer Verlag, 1977).
Hofrat Dr. Alois Kahr war multilingual. Er beherrschte 16 Sprachen in Wort und Schrift. Zusätzlich viele russische, tschechische und ungarische Regiolekte. Als Dechiffrier-Spezialist half ihm seine außerordentliche mathematische Begabung. So konnte er sogar im Kopf polyalphabetische Übertragungen durchführen, ohne auf die Hilfe von Rotor-Schlüssel-Maschinen angewiesen zu sein. Spezialisiert hatte er sich auf die Verschlüsselungsmethode der Fialka-Modelle – sozusagen eine Weiterentwicklung der Enigma – die mit 10 Rotoren arbeiteten. Er beschäftigte sich aber nicht nur mit Kryptologie, sondern war auch als Kulturattaché in Moskau, Bukarest, Prag und Ostberlin tätig. Von ihm werde ich in meinem Blog noch erzählen. Seine Zeit, die er im Ostblock während des Kalten Krieges verbrachte, war spannender als viele Romane und Filme, die abwehrdienstliche Handlungen zum Inhalt haben. Einer geheimdienstlichen Intrige zum Opfer gefallen, erlebte er nicht mehr den Austausch gegen einen in Moskau in der Lubjanka einsitzenden US-Beamten und starb 1970 in der Krankenabteilung der Strafanstalt Stein in Österreich.